23. Jahrestagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich
18.–19. Oktober 2013, Linz, LFI Oberösterreich
Abstracts von Vorträgen
FREITAG, 18. OKTOBER 2013
- Sexualität und Inkontinenz
„Use it or loose it“
M. Dunzinger
Abteilung für Urologie und Andrologie, LKH Vöcklabruck
Zusammenfassung Für den Erhalt der postoperativen erektilen Funktion nach radikaler Prostatektomie spielen unterschiedliche Operationstechniken und das Equipment keine vordergründige Rolle, auch wenn in zahlreichen Publikationen die Vorteile unterschiedlicher Techniken bezogen auf den Nerverhalt hervorgehoben werden. Entscheidend sind das Alter des Patienten, dessen Komorbidität und präoperative erektile Funktion sowie die intraoperative Schonung des neurovaskulären Bündels durch den erfahrenen Operateur.
Die Sichtweise über den tatsächlichen funktionellen Erfolg eines Nerverhalts im Rahmen der Operation ist für Patienten und Operateure sehr unterschiedlich. Dies zeigen sehr diskrepante Daten einerseits aus medizinischen Publikationen und andererseits aus ärzteunabhängigen Patientenbefragungen.
Wenn wir zukünftig unterschiedliche Operationsmethoden wirklich valide vergleichen wollen, dann dürfen wir in die Analyse ausschließlich Patienten einschließen, die präoperativ tatsächlich eine intakte erektile Funktion hatten, und dies bedeutet im Rahmen des IIEF (International Index of Erectile Function) einen Wert von ≥ 22. Aus dieser Gruppe müssen dann die ausschließlich beidseits nerverhaltenen Patienten rekrutiert werden, die auch postoperativ in ein konsequentes Schwellkörpertraining eingeschleust werden. Gerade in der Phase der postoperativen Patientenbetreuung ist eine gute Arzt-Patienten-Beziehung für die Erfolg bringende therapeutische Compliance im Rahmen des vorgegebenen Schwellkörpertrainings von zentraler Bedeutung.
Einleitung P. Walsh erzielte durch die Einführung der nerverhaltenden Operationstechnik eine wesentliche Verbesserung der postoperativen erektilen Funktion nach radikaler Prostatektomie. Vor dieser Zeit lagen die Raten postoperativer erektiler Dysfunktion bei annähernd 100 %. In weiterer Folge wurden neben der offenen Technik der radikalen Prostatektomie neue Techniken, wie die laparoskopische Prostatektomie und später die roboterassistierte Prostatektomie, entwickelt. Neben den onkologischen Outcome-Daten waren es vorwiegend die postoperativen Kontinenz- und Potenzraten, die die unterschiedlichen Techniken untereinander verglichen.
Haupttext Rund 600.000–800.000 Österreicher leiden an einer erektilen Dysfunktion, also einer in unterschiedlichem Maße ausgeprägten Funktionsstörung, eine Erektion zu erreichen oder aufrecht zu erhalten. Eine radikale Prostatektomie kann neben zahlreichen anderen Faktoren der Grund für eine postoperative erektile Funktionsstörung sein.
Die Erfolgsraten bezüglich der postoperativen Potenz nach radikaler Prostatektomie innerhalb der publizierten medizinischen Fachliteratur unterliegen einer hohen Streubreite. Die angegebenen postoperativen Potenzraten liegen nach beidseits nerverhaltender Operation zwischen 31 % und 86 %, bei einseitig nervschonender Operation zwischen 13 % und 56 % und nach nicht nervschonender Operation zwischen 0 % und 17 %.
Anders verhält sich die postoperative erektile Erfolgsrate nach direkter Befragung der operierten Patienten durch nichtärztliches Personal. Es gibt somit Daten aus Qualitätsprüfungen, die im Rahmen ärzteunabhängiger Patientenbefragungen erhoben wurden. Eine dieser Befragungen wurde an 9 Berliner urologischen Kliniken durchgeführt. 82 % der Befragten gaben ein Jahr postoperativ nach nerverhaltender Operation eine Potenzstörung an.
Aufgrund der sehr diskrepanten Daten aus medizinischer Fachliteratur und den Patientenbefragungen im Rahmen von Qualitätsprüfungen ergibt sich unweigerlich die Frage: Welche Informationen können und sollen wir unseren Patienten präoperativ im Rahmen der Aufklärung geben?
Entscheidend für die postoperative Beurteilung der erektilen Funktion ist die präoperative Ausgangslage derselben. Anhand des IIEF-5-Patientenfragebogens werden alle Patienten präoperativ befragt. Nach zahlreichen Untersuchungen kann man davon ausgehen, dass eine erektile Funktionsstörung bereits bei einem IIEF-Score < 22 beginnt.
An unserer Abteilung wird die radikale Prostatektomie in der Technik der endoskopischen extraperitonealen radikalen Prostatektomie durchgeführt. Um die tatsächliche postoperative erektile Funktion bestimmen zu können, haben wir aus einer Gruppe von 272 mit bilateralem Nerverhalt operierten Patienten jene selektiert, die präoperativ einen IIEF-Score ≥ 22 aufzeigten. Diese Patienten gaben an, regelmäßig ohne Anwendung jeglichen Hilfsmittels einen Geschlechtsverkehr vollziehen zu können. Aus dieser Patientengruppe konnten postoperativ nach stattgehabter radikaler Prostatektomie 68,5 % ihre erektile Funktion erhalten.
Auch nach sorgfältiger, intraoperativer nervschonender Technik kommt es zu einer so genannten Neuropraxie der Nerven. Darunter versteht man eine in unterschiedlichem Ausmaß starke Beeinträchtigung der neuronalen Strukturen durch Dehnung und Quetschung. Daraus resultiert ein unterschiedlich lang anhaltender Verlust der Erektionsfähigkeit mit konsekutiver kavernöser Hypoxie. Diese wiederum bedingt eine Fibrosierung der glatten Muskelzellen innerhalb der Schwellkörper und in weiterer Folge eine Verschlechterung der kavernösen veno-okklusiven Funktion. Dieser fortschreitende Prozess führt je nach Dauer zu einer mehr oder minder ausprägten erektilen Dysfunktion. Aufgrund einer besseren Neuroplastizität zeigen jüngere Patienten eine raschere Erholung der belasteten neurovaskulären Strukturen.
Wie rasch sich eine erektile Funktion postoperativ zurückgewinnen lässt, hängt nebst den Faktoren der Neuropraxie und deren Folgen auch von anderen Faktoren ab. So spielen Alter und zahlreiche Komorbiditäten, wie Diabetes oder arterielle Hypertonie, oft eine wesentliche Rolle. Die Summe der bereits bestehenden präoperativen und dann intraoperativen Nervenschädigung bestimmt die Zeit der nervalen Rekonvaleszenz. So kann die oftmals langsame Besserungstendenz der Erektion Monate bis Jahre dauern.
Ein entscheidender Faktor für den Erfolg der postoperativen Wiedererlangung einer erektilen Funktion ist die Compliance des Patienten. Sie ist entscheidend für das postoperative Schwellkörpertraining, das wiederum durch den Arzt vorgegeben werden sollte. Ohne ein klares postoperatives therapeutisches Konzept in Absprache mit dem Patienten werden zufriedenstellende Erfolge für den Patienten und für den Arzt lange auf sich warten lassen.
Sexuelle Funktionsstörungen nach koloproktologischen Eingriffen
I. Haunold
Chirurgische Abteilung, KH der Barmherzigen Schwestern Wien
Einleitung Sexualität ist für den Großteil der Bevölkerung ein wesentlicher Bestandteil zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie spielt eine große Rolle für das seelische und körperliche Gleichgewicht und damit für die Lebensqualität jedes Einzelnen. Wichtige Voraussetzungen für ein ungetrübtes Sexualleben sind unter anderem sexuelles Verlangen, Spontaneität und Akzeptanz des eigenen Körpers. Nach koloproktologischen Operationen können eben diese Bereiche gestört sein. Als Ursache werden psychische und physische Auslöser oder auch eine Kombination von beiden unterschieden. Genaue Zahlen bezüglich Häufigkeit sind kaum zu finden, die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich ähnlich wie die Inkontinenzrate relativ hoch.
Material Für den Koloproktologen stehen meist neue Operationstechniken, die Rezidivhäufigkeit und Inkontinenzraten im Vordergrund, nach sexuellen Störungen wird viel zu selten aktiv gefragt. Dabei sollten gerade nach Darmoperationen und Eingriffen im Anogenitalbereich diese Problematik und konsekutive Funktionsstörungen angesprochen werden. Für Betroffene ist es oft ein Tabuthema, das im Arztgespräch vermieden wird. Dies erklärt den Mangel an exakten Daten zu Häufigkeit, Geschlechterverteilung oder Ausmaß.
Neben Orgasmusstörungen im Allgemeinen können geschlechtsspezifisch auftreten:
- Erektile Dysfunktion beim Mann
- Genitale Schmerzsymptome bei der Frau
Ursächlich für Sexualfunktionsstörungen sind:
- Physische Gründe:
- Nervenschädigung nach TVR
- Stenosen oder Narbenbildungen nach Bestrahlung
- Geänderte Anatomie nach ausgedehnter Tumorresektion
- Psychische Gründe:
- Angst
- Scham
- Unsicherheit
- Stress
- Ekel
Häufig potenziert sich die Problematik durch eine Kombination der genannten Ursachen.
Beispiel Rektumkarzinom Bei Patienten mit tiefem Rektumkarzinom können sexuelle Funktionsstörungen multifaktoriell bedingt sein. Gedanken ums Überleben und die Angst vor dem Tod verdrängen das sexuelle Verlangen und lassen eine unbeschwerte Sexualität kaum zu. Eine mehrwöchige präoperative Strahlentherapie kann Auswirkungen auf den gesamten Beckenboden haben, Hautreaktionen bis hin zu Ulzera oder Stenosen können das sexuelle Empfinden stören. Die tiefe vordere Resektion ist ein großer Eingriff, für deren Rekonvaleszenz Körper und Geist Energie benötigen, sodass die sexuelle Lust sicherlich in den Hintergrund gedrängt wird. Zwar konnte mit Etablierung der totalen mesorektalen Exzision (TME) die Häufigkeit von Nervenläsionen drastisch gesenkt werden, die Schädigung des Nervenplexus präsakral bleibt aber eine eingriffstypische Komplikation, über deren Risiko in der präoperativen Dokumentation aufzuklären ist und die beim Mann permanente erektile Dysfunktion verursachen kann. Ist aufgrund der Tumorlokalisation eine Stomaanlage erforderlich, kommt es zu einer Änderung des Körperbildes, was nicht nur vom Patienten selbst, sondern auch vom Partner große Akzeptanz erfordert.
Stoma Für die Akzeptanz des Patienten, mit einem künstlichen Darmausgang zu leben, und für die psychische Verarbeitung ist es wohl von Bedeutung, ob das Stoma akut oder geplant, permanent oder nur temporär angelegt wurde. Das Vorhandensein eines Stomas lässt Spontaneität in der Sexualität nur bis zu einem gewissen Grad zu. Obwohl neben unterschiedlichen Versorgungssystemen auch Schutzbezüge, Kappen und entsprechende Dessous angeboten werden, muss der Stomaträger stets Vorkehrungen für unbeschwerte Stunden treffen. Die Angst, es könne etwas undicht werden, aber auch die Unsicherheit, was man dem Körper nach einer großen Operation zumuten kann, überschattet zwischenmenschliche Begegnungen.
Analkarzinom Die Diagnose Krebs per se stellt eine enorme psychische Belastung dar. Hinzu kommt, dass der Tumor meist von außen sicht- und tastbar ist, Sekretion oder Schmerz aufgetreten sind, was die Sexualität schon einschränkt, ehe der Patient den Weg zum Arzt wagt.
First-line-Therapie ist eine mehrwöchige Bestrahlung, worauf diese Tumoren meist gut ansprechen. Liegt nach Beendigung aber ein Residualtumor vor oder kommt es zu einem Rezidiv, so muss chirurgisch radikal vorgegangen werden. Diese Resektionen betreffen oft das gesamte Perineum und die hintere Vaginalwand, sodass aufgrund der geänderten Anatomie eine Kohabitation nicht mehr möglich ist. Dieses Problem ist ebenfalls gegeben, wenn sich bei Diagnosestellung von fortgeschrittenen Tumoren bereits eine Kloakensituation entwickelt hat oder nach Bestrahlung eines großen exulzerierten Tumors massive Stenosen entstanden sind.
Perianale Sepsis Abszesse und Fisteln im anogenitalen Bereich vereiteln oft wegen Angst und Schmerz sexuelle Begegnungen. Im Rahmen eines septischen Geschehens müssen oft perianal oder anovaginal Ringdrainagen gelegt werden. Insbesondere Crohn-Patientinnen leben damit mitunter monatelang oder auf Dauer, was eine unbeschwerte Sexualität beeinträchtigt. Die Unsicherheit, es könnte etwas reißen, aber auch die Hemmung dem Partner gegenüber reduzieren das sexuelle Verlangen.
Postoperative Inkontinenz Prinzipiell kann es nach jedem operativen Eingriff im Bereich des Schließmuskels zu Störungen der Kontinenzleistung kommen. Bei der mildesten Form können Winde nicht gehalten werden, was bereits im Alltag als extrem unangenehm empfunden wird, vielmehr noch bei sexuellen Begegnungen. Kommt es dann bei körperlicher Anstrengung noch zu Stuhlverlust, so entsteht massiver Stress. Die Angst, es könne etwas passieren, steht im Vordergrund jedes Denkens und vereitelt jegliche unbeschwerte Sexualität. Unabhängig vom Krankheitsbild ist Angst wahrscheinlich der wichtigste psychische Grund für sexuelle Funktionsstörungen nach koloproktologischen Operationen. Angst vor Schmerz, dem Aufreißen einer Naht, vor dem Versagen, vor Inkontinenz, vor Krebs, vor dem Tod – dies alles lässt eine ungetrübte Sexualität nicht zu.
Ergebnisse Nach koloproktologischen Eingriffen kann es zu Problemen mit der Sexualität kommen, wenn operationsbedingt die Anatomie im Anogenitalbereich verändert wurde, durch Nervenläsion Funktionsdefizite entstanden sind oder die Psyche, beeinflusst durch Angst, Scham, Stress oder verändertes Körperbild, ein unbeschwertes Sexualleben nicht zulässt. Sexuelle Funktionsstörungen bleiben als Tabu oft unausgesprochen und beeinträchtigen Patienten in ihrer Lebensqualität. Koloproktologen sollten sich dieses Problems bewusst sein, Patienten behutsam darauf ansprechen und ihnen professionelle Hilfe anbieten.
Literatur:
Ball M, Nelson CJ, Shuk E, et al. Men’s experience with sexual dysfunction post-rectal cancer treatment: a qualitative study. J Cancer Educ 2013; 28: 494–502.
Konanz J, Herrle F, Weiss C, et al. Quality of life of patients after low anterior, intersphincteric, and abdominoperineal resection for rectal cancer – a matched-pair analysis. Int J Colorectal Dis 2013; 28: 679–88.
Nagpal K, Bennet N. Colorectal surgery and its impact on male sexual function. Curr Urol Rep 2013; 14: 279–84.
Yu-Hua L. Sexual dysfunction in women after low anterior resection. Clin Nurs Res 2013 [Epub ahead of print].
- Workshop: Basisinformation zur neurogenen Harnblasen- und Darmstörung
Pathophysiologie und Diagnostik der neurogenen Harnblase
H. Madersbacher
Innsbruck
Neurophysiologie und Neuropathophysiologie des unteren Harntrakts Die Aufgabe des unteren Harntraktes ist eine zweifache: zum einen die Speicherung, zum anderen die Entleerung des Harns. Die Speicherfunktion umfasst das Gefühl für Blasenfüllung und Harndrang, die Fähigkeit, den Harndrang zu unterdrücken, Kontinenz zu garantieren und dabei die Niederdrucksituation in der Blase zu erhalten. Die normale Entleerungsphase ist charakterisiert durch Willkürsteuerung mit Blasenentleerung am geeigneten Ort und zur geeigneten Zeit durch physiologische Drucke ohne Zuhilfenahme der Bauchpresse sowie durch eine zügige und restharnfreie Miktion. Die Funktionstüchtigkeit jener Areale im Gehirn, die Detrusor und Sphinkter regulieren, sowie eine intakte Signalübermittlung – zerebral, spinal und peripher – sind dafür die Voraussetzung.
Zerebrale Blasenkontrolle: Die afferenten Impulse aus dem unteren Harntrakt gelangen teils über die Hinterstränge (exterozeptive Reize), teils über der Schmerzbahn/dem Tractus spinothalamicus benachbarte Nervenbahnen (propriozeptive Reize) zunächst zum periaquäduktalen Grau („periaqaeductal grey“ [PAG]) im Mittelhirn, das sich als eine wichtige zerebrale Schaltstelle erwiesen hat. Von dort gelangen die afferenten Impulse zur Insula, sie vermitteln dort ab einer gewissen Stärke Harndrang. Sie werden weiter zum Gyrus praefrontalis geleitet, wo die Entscheidung „Blasenentleerung ja oder nein“ fällt. In diese Entscheidung eingebunden werden noch Areale im Gyrus cinguli anterior, das dem limbischen emotionalen System zugeordnet ist und das auch für unser Sozialverhalten mitverantwortlich ist (Miktion zum geeigneten Zeitpunkt? am geeigneten Ort?). Erst wenn auch von dort das Okay kommt, gelangen aktivierende Impulse wieder über das periaquäduktale Grau zum Hirnstamm, zum pontinen Miktionszentrum (PMC). Die zentrale Hemmung, die bisher eine Miktion verhindert hat, wird aufgehoben. Die vom Miktionszentrum ausgesandten efferenten Impulse gelangen über das Rückenmark und periphere Nerven zur Harnblase und bewirken ihre Kontraktion.
Eine wichtige Struktur ist der Hirnstamm, dort finden sich auch für Kontinenz und Miktion Kontroll- und Koordinationszentren: einmal das bereits erwähnte „pontine Miktionszentrum“ (PMC), oder wegen seiner Lokalisation median auch als „M-Region“ bezeichnet, lateral dorsal davon findet sich die „L-Region“, welche die Motorneurone zum Beckenboden und damit auch zum äußeren Schließmuskel kontrolliert. Eine intakte Koordination zwischen M- und L-Region ist Voraussetzung dafür, dass wir unsere Blase koordiniert entleeren: Gleichzeitig mit der Detrusorkontraktion kommt es auch zu einer Sphinkterrelaxation. Immer dann, wenn der Blasenentleerungsreflex nicht über den Hirnstamm läuft bzw. der Hirnstamm lädiert ist, kommt es zu einer Dyssynergie zwischen Detrusor und Sphinkter mit erheblichen klinischen Folgen.
Spinale Blasenkontrolle
– Speicherphase: Der wesentliche Nerv für die Ruhigstellung der Harnblase ist der Sympathikus. Afferente Impulse, ausgelöst durch Tonuserhöhung im Schließmuskel bei zunehmender Blasenfüllung und zunächst vermittelt über afferente Nerven in den N. pudendi, führen reflektorisch über Interneurone im thorako-lumbalen Rückenmark (Th12–L2) zur Aktivierung des Sympathikus. Die dort entspringenden sympathischen Nervenfasern gelangen über die Nn. hypogastrici an ihre Angriffspunkte im unteren Harntrakt, zur Blasenwand, zur Blasenhalsregion und zur proximalen Harnröhre. Über beta-adrenerge Rezeptoren in der Harnblasenwand wird eine Hemmung der Detrusoraktivität erreicht, über alpha-adrenerge Rezeptoren am Blasenhals der Blasenverschluss verstärkt. So kommt es bei zunehmender Blasenfüllung einerseits zu einer Ruhigstellung des Detrusors, andererseits zu einer zunehmenden Tonisierung des Blasenhalses und der proximalen Harnröhre als Teil des Kontinenzmechanismus.
– Entleerungsphase: Der Nerv zur Blasenentleerung ist der Parasympathikus. Die präganglionären parasympathischen Nervenfasern entspringen im Sakralmark, in der Pars intermediolateralis, insbesondere im sakralen Segment S3, und werden im Plexus pelvicus, zum Teil erst in der Blasenwand, auf postganglionäre cholinerge Neurone umgeschaltet. Detrusortonus und -kontraktion sind parasympathisch kontrollierte Funktionszustände. Die Triggerung des sakralen Schaltzentrums erfolgt normalerweise vom Hirnstamm aus (siehe oben).
Die Beckenbodenmuskulatur und der quergestreifte Harnröhrenschließmuskel werden ebenfalls aus den sakralen Segmenten, und zwar über die Kerne der Nn. pudendi im Vorderhorn von S2–S4, innerviert.
Die Entleerungsphase ist abgesehen vom Kleinkindesalter ein willkürlich eingeleiteter Vorgang, ausgelöst durch Aktivierung des pontinen Miktionszentrums. Eingeleitet wird die Blasenentleerung durch die Relaxation von Blasenhals, proximaler Harnröhre und Beckenboden, gefolgt von einer Detrusorkontraktion.
Periphere Steuerung des unteren Harntraktes: Die peripheren Nervenbahnen zur Harnspeicherung und -entleerung bestehen aus efferenten und afferenten Nerven, die in Nn. pelvici (parasympathisch), in Nn. hypogastrici (sympathisch) und in den Nervenfasern des N. pudendus (somatisch) bzw. anderen, aus den Vorderhörnern von S2–S5 entspringenden Nervenbahnen hervorgehen.
Pathophysiologie der neurogenen Dysfunktion des unteren Harntraktes: Kommt es zu einer Läsion von Nervenstrukturen, die den unteren Harntrakt versorgen, hängt der Grad der Dysfunktion wesentlich von der Lokalisation und der Ausdehnung der Läsion ab. Zu unterscheiden sind (1) suprapontine, (2) pontine (Hirnstamm-), (3) spinale suprasakrale und (4) spinale sakrale und subsakrale (Cauda equina und periphere) Läsionen. Prinzipiell können Blase und Schließmuskel auf die Läsion mit einer Über- oder einer Unteraktivität reagieren, Detrusor und Sphinkter können ein gleichartiges, mitunter aber auch ein unterschiedliches Läsionsmuster aufweisen.
– Suprapontine Läsionen: Läsionen oberhalb der Pons (Hirnstamm) führen aufgrund einer defekten Hemmung zu einer Detrusorüberaktivität, es besteht jedoch eine Synergie zwischen Detrusor und Sphinkter, da das pontine Miktionszentrum nicht lädiert ist. Typischerweise findet sich die „zerebral enthemmte Blase“ bei zerebrovaskulären Läsionen, nach Schlaganfall, beim Morbus Parkinson, Demenz oder Hirntumoren.
– Pontine (Hirnstamm-) Läsionen: Da sowohl das pontine Miktionszentrum, die „M-Region“ als auch die „L-Region“ im Hirnstamm lokalisiert sind, können derartige Läsionen ein sehr unterschiedliches Läsionsmuster bewirken. Oft finden sich sowohl Symptome der gestörten Speicher- als auch der gestörten Entleerungsphase, weiters kann eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie die Blasenentleerung behindern und zu Restharn führen. Krankheiten, die zu Hirnstammläsionen führen können, sind der Morbus Parkinson, die Multi-System-Atrophie (MSA) und die Multiple Sklerose.
– Spinale suprasakrale Läsionen: Das typische Läsionsmuster ist die Kombination einer spinalen Reflexblase mit einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie. Ist die Läsion komplett, geht das Gefühl für Harndrang verloren. Eine reflektorische Blasenentleerung über einen sakralen Reflexbogen ist möglich, allerdings ist die Entleerung unphysiologisch, unkontrolliert und führt zur Inkontinenz. Da der Blasenentleerungsreflex nicht mehr über den Hirnstamm verläuft, fehlt auch die Koordination zwischen Detrusor und Sphinkter, die daraus resultierende Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie kann einerseits zu Restharn, zum anderen zu unphysiologisch hohen Drucken in der Harnblase führen. Bei traumatischen Querschnittlähmungen mit definierter Lokalisation und Ausdehnung ist die daraus resultierende Dysfunktion des unteren Harntraktes im Allgemeinen vorhersehbar, nicht jedoch bei anderen neurologischen Erkrankungen, wie z. B. bei der Myelomeningozele oder Multiplen Sklerose.
– Spinale sakrale (Conus medullaris) und subsakrale (Cauda equina und periphere Nerven) Läsionen: Sie führen zu einer Dysfunktion der sakralen parasympathischen Neurone und der den äußeren Schließmuskel versorgenden Motorneurone. Es kommt zu einem Verlust der Blasensensitivität und, bei komplettem Ausfall, zu einem akontraktilen Detrusor bzw. zu einer schlaffen Blasenlähmung in Kombination mit schlaffer Schließmuskellähmung. Aber auch Mischformen, z. B. die Kombination eines akontraktilen Detrusors mit einem normal funktionierenden oder auch einem überaktiven Schließmuskel, sind möglich. Subsakrale Läsionen, insbesondere solche der peripheren Nerven, finden sich mitunter nach chirurgischen Eingriffen im kleinen Becken. Diese Läsionen sind meist inkomplett. Bei iatrogener Schädigung des Plexus pelvicus im Rahmen einer Radikaloperation im kleinen Becken kommt es zwar zu einer Störung der Blasensensitivität und -kontraktilität, die Schließmuskelfunktion bleibt jedoch intakt, da der Nervus pudendus im Allgemeinen davon nicht tangiert wird.
Diagnostik Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass die Erfassung neurogener Blasenstörungen nur mithilfe aufwendiger Apparaturen möglich ist. Dies mag für spezielle Fragestellungen zutreffen; für die Diagnose als solche, zumindest aber für die Verdachtsdiagnose sind die gezielte Anamnese und eine zielgerichtete klinische Untersuchung wichtige Hilfsmittel, die allen zur Verfügung stehen. Sie sind richtungsweisend und Basis für weiterführende spezielle Untersuchungen.
Anamnese: Sie sollte bei Verdacht auf neurogene Blasenentleerungsstörung neben den Miktionsgewohnheiten auch die Stuhlgewohnheiten und die Sexualfunktion miterfassen. Diese drei Fragenkomplexe bringen häufig sich ergänzende Informationen, da die entsprechenden Bahnen und Zentren für diese Funktionen anatomisch zum Teil ident, zum Teil eng benachbart sind.
– Miktionsanamnese: Die Miktionsanamnese muss klären, ob Harndrang verspürt wird und ob der Harndrang kontrollierbar und das Gefühl für die bevorstehende und die in Gang befindliche Miktion vorhanden sind. Das Fehlen des Harndrangs bei entsprechender Blasenfüllung ist ein sicheres Zeichen dafür, dass die Perzeption des Füllungszustandes zentral oder peripher (typisch für eine diabetische Neuropathie) gestört ist.
Mitunter wird anstelle des Harndrangs lediglich ein suprapubisches Völlegefühl, das durch Dehnungsreize des die Blasenhinterwand überziehenden Peritoneums vermittelt wird, verspürt. Dieses Völlegefühl wird für Betroffene zum modifizierten Harndrang. Die Frage „Spüren Sie Harndrang?“ wird daher zunächst mit „Ja“ beantwortet, erst durch gezieltes Fragen wie „Verspüren Sie den Harndrang so wie früher oder hat sich daran etwas geändert?“ gelingt es zwischen Harndrang und diesem suprapubischen Völlegefühl zu differenzieren und eine Störung afferenter Nervenbahnen, z. B. im Rahmen einer partiellen peripheren Denervierung nach Eingriffen im kleinen Becken, zu erfassen.
Ein Blasentagebuch, über zwei Tage und Nächte geführt, informiert über Miktionszeit, Miktionsvolumen, Kontinenz bzw. Inkontinenz und bei Verwendung eines entsprechenden Scorings auch über die Intensität des imperativen Dranges. Kommt die Miktion nur durch Betätigung der Bauchpresse zustande, muss man bei Fehlen einer Obstruktion in erster Linie an eine Schädigung im Sakralmark oder peripher davon denken.
– Stuhlanamnese: In ähnlicher Weise fragen wir nach den Stuhlgewohnheiten, auch die Frage nach der Stuhlentleerungsfrequenz und die Art der Stuhlentleerung sind wichtig. Diese Empfindungen sind ebenfalls komplex und werden nur verspürt, wenn autonome und somatische Nerven mit den jeweils übergeordneten Zentren zusammenspielen. Fragen wie „Verspüren Sie Stuhldrang?“, „Können Sie zwischen bevorstehendem Stuhl- oder Windabgang unterscheiden?“ oder „Spüren Sie den Durchtritt von Stuhl durch den Analkanal?“ sind wichtig in Bezug auf eine neurogene Störung.
– Sexualanamnese: Aus Scheu, in die Intimsphäre einzudringen, Tabus zu berühren, die Patientin in eine peinliche Lage zu bringen, wird nach der Sexualfunktion meist nur oberflächlich, halb oder gar nicht gefragt, obwohl auch diese Fragen wichtige ergänzende Informationen liefern: Veränderung des Orgasmusgefühles oder eine fehlende Lubrifikation unterstützen mitunter den Verdacht auf eine neurogene Störung.
Klinische Untersuchung: Die folgenden Untersuchungen sollten ohne instrumentellen Aufwand durchführbar sein und geben wertvolle Hinweise darauf, ob eine neurogene Läsion vorliegt bzw. wo eine mögliche Läsion liegt.
– Prüfung der Sensitivität in den sakralen Dermatomen S2–S5: Diese Untersuchung ist deshalb wichtig, weil die afferenten Nervenbahnen aus diesen Dermatomen in die Sakralnerven einmünden, in denen auch die Nervenimpulse von Blase, Rektum (über den Plexus pelvicus) und Beckenboden zum Sakralmark gelangen. Fehlende Schmerz- oder Berührungsempfindung in den sakralen Dermatomen ist ein Hinweis darauf, dass eine Läsion der sakralen Rückenmarksegmente bzw. der davon abgehenden Nervenwurzeln besteht.
– Rektaluntersuchung: Die Austastung des Enddarms ist unerlässlich, dabei sollte man den Tonus des analen Sphinkters und die Fähigkeit des Betroffenen prüfen, den Sphinkter ani zu kontrahieren, und eine Stuhlimpaktion erfassen.
– Bulbocavernosusreflex: Der Bulbocavernosusreflex ist dann positiv, wenn sich bei Kompression der Klitoris oder der Glans penis bzw. bei Zug an einem liegenden Dauerkatheter der Sphinkter ani bzw. der M. bulbocavernosus kontrahieren. Dieser Reflex wird über die Nervi pudendi vermittelt, läuft über die Segmente L5–S5 und ist zur Prüfung der somatomotorischen Reflexaktivität des Sphinkterkomplexes geeignet. Das Fehlen des Bulbocavernosusreflexes ist ein sicherer Hinweis auf eine Schädigung des (lumbo-) sakralen Reflexbogens. Er kann allerdings im Alter nicht mehr nachweisbar sein.
– Harnuntersuchung und Restharnevaluierung: Sie gehören zur Basisdiagnostik bei Verdacht auf neurogene Blasenentleerungsstörung, wobei weniger der absolute Wert, sondern vielmehr das Verhältnis zwischen funktioneller Blasenkapazität und Restharn klinisch bedeutsam ist.
Mitunter ist die Basisdiagnostik ausreichend, um neurogene Störungen zu behandeln, z. B. eine überaktive Blase nach Schlaganfall ohne relevanten Restharn. Manchmal sind jedoch ergänzende Untersuchungen, vor allem eine Urodynamik bzw. Video-Urodynamik, notwendig, um die Läsion exakt zu definieren, auch als Voraussetzung für eine gezielte Therapie.
Das Ergebnis der Basisuntersuchung ist jedoch auch für die Interpretation der urodynamischen Befunde notwendig. Die Durchführung einer urodynamischen Untersuchung ohne Kenntnis der Befunde der Basisdiagnostik ist nicht sinnvoll, zumal manche Parameter, wie die funktionelle Blasenkapazität, Harnfluss und Restharn, im Rahmen der urodynamischen Untersuchung aufgrund von Artefakten Fehlinformationen geben können.
Neurogene Darmstörungen – Pathophysiologie und Diagnostik
J. Pfeifer
Klinische Abteilung für Allgemeinchirurgie, Universitätsklinik für Chirurgie, Graz
Einleitung Das Nervensystem des Menschen besteht aus 3 Abschnitten: dem Zentralnervensystem (ZNS) bestehend aus Gehirn und Rückenmark, dem peripheren Nervensystem (PNS) bestehend aus 31 Paaren segmentaler Spinalnerven und dem autonomen oder vegetativen Nervensystem (VS) bestehend aus dem enterischen Nervensystem (ENS, auch „Bauchhirn“ genannt) und den Regulatoren Sympathikus und Parasympathikus. Allein das ENS besteht aus 108 (100 Millionen!!!) Neuronen, die im Wesentlichen im Plexus myentericus Auerbachi und Plexus submucosus Meissneri in den Darmwänden liegen. Das ENS hat einen starken Einfluss auf die Verdauung und reguliert unter anderem Darmmotilität, Sekretion, Absorption, den gastrointestinalen Blutfluss und die Immunabwehr.
Definitionsgemäß versteht man unter einer neurogenen Darmstörung, wenn eine Beeinträchtigung von Gastrointestinaltrakt und/oder Anorektum vorliegt, welche sich klinisch als chronische Obstipation oder fäkale Inkontinenz präsentiert.
Methode Als Beispiel für neurogene Darmstörungen werden 4 verschiedene klinische Untergruppen besprochen:
1. Patienten mit traumatischer Querschnittsläsion (SCI)
2. Patienten mit Multipler Sklerose (MS)
3. Patienten mit Mb. Parkinson (PD)
4. Patienten mit Reizdarm (IBS)
Abklärung Neben Anamnese, Klinik, Obstipations- und Inkontinenzscores stehen unter anderem folgende physiologische Tests zur Verfügung: Transitzeitmessung, H2-Atemtest, Analkanalmanometrie, anale Endosonographie, Pudenduslatenzzeitmessung, Beckenboden-EMG, Ballon-Evakuationstest und (Elektro-) Stimulationsuntersuchungen.
Ergebnisse Bei SCI-Patienten ist am Wichtigsten die Unterscheidung, ob eine obere oder untere Motoneuronläsion vorliegt. Letztere beeinflusst neben der kolorektalen Motilität auch die anale Perzeption und Funktion.
Bei der MS sind die Symptome sehr unterschiedlich gelegen. Eine genaue Anamnese ist oft sehr hilfreich. Die Botschaft lautet: „Daran denken und notfalls dem Neurologie-Facharzt zuweisen.“
Ob PD primär vom ENS ausgeht, wird ebenso diskutiert wie das „Endergebnis“ eines Mangels an Dopamin im Mittelhirn (Substantia nigra).
IBS-Patienten zeigen eine ausgeprägte viszerale Hypersensitivität. Derzeit werden besonders Beziehungen zum Mikrobiom kausal diskutiert.
Zusammenfassung Neurogene Darmstörungen sind ein großes Feld verschiedenster Ätiologie, die sich klinisch in chronischer Obstipation und/oder Stuhlinkontinenz oder in diffusen Bauchschmerzen äußern. Eine systematische Abklärung ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung.
Literatur:
Awad RA. Neurogenic bowel dysfunction in patients with spinal cord injury, myelomeningocele, multiple sclerosis and Parkinson‘s disease. World J Gastroenterol 2011; 17: 5035–48.
Camilleri M, Lasch K, Zhou W. Irritable bowel syndrome: methods, mechanisms, and pathophysiology. The confluence of increased permeability, inflammation, and pain in irritable bowel syndrome. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol 2012; 303: G775–G785.
Hammer HF, Petritsch W; unter Mitarbeit von: Hammer J, Kapral C, Madl C, et al. Stufentherapie bei chronischer Obstipation: Relevanz der deutschen Leitlinien für Österreich (in press).
Pfeifer J. Chronische Obstipation und chirurgische Therapie: Bei richtiger Indikation erfolgversprechend. Universum Innere Medizin 2012; 8: 40–1.
Pfeiffer RF. Autonomic dysfunction in Parkinson‘s disease. Expert Rev Neurother 2012; 12: 697–706.
Steyer G, Pfeifer J. Multispezies Probiotika und Antibiotika. Review zur klinischen Evidenz bei der Prävention von Antibiotika-Assoziierter Diarrhoe (AAD) und Clostridium difficile-Infektionen (CDI). Orthomolekulare Medizin & Ernährung 2012; 141.
Basisinformationen zu neurogener Blasen- und Darmstörung: Aktuelle Therapiekonzepte
J. Pannek
Neuro-Urologie, Schweizer Paraplegiker-Zentrum, Nottwil, Schweiz
Nahezu alle Patienten mit Rückenmarkläsion leiden unter einer neurogenen Blasenfunktionsstörung (NBFS). Mögliche Folgen der gestörten Speicher- und Entleerungsfunktion sind Schädigungen der Nierenfunktion (z. B. durch Reflux, Abflussbehinderung oder aufsteigende Infektionen) und Einschränkungen der Lebensqualität (z. B. durch symptomatische Harnwegsinfekte, Inkontinenz).
Primäres Ziel der Therapie der NBFS ist die Protektion der Nierenfunktion. Wenn immer möglich, sollte dabei der bestmögliche Erhalt der Lebensqualität der Betroffenen Berücksichtigung finden. Zur Vermeidung von Nierenschäden ist essenziell, dass die Harnblase in der Urinspeicherphase ein Niederdruckreservoir darstellt. Prinzipiell kann diese durch eine Dämpfung der Detrusorüberaktivität erreicht werden, z. B. durch Antimuskarinika oder Botox-Injektion in den Detrusor. In der Regel kann hierdurch Kontinenz erreicht werden, die Entleerung erfolgt mittels intermittierendem Katheterismus. Für Patienten, die den intermittierenden Katheterismus nicht wünschen oder nicht in der Lage sind, die Technik durchzuführen, besteht die Möglichkeit, durch eine Senkung des Auslasswiderstands den intravesikalen Druck zu senken. Dies führt jedoch oft zu einer Reflexentleerung und Belastungsinkontinenz, die mit Hilfsmitteln (z. B. Kondomurinal) versorgt werden muss. Aktuelle Fortschritte in der Therapie ermöglichen eine nebenwirkungsärmere und effektivere Senkung der Detrusoraktivität bzw. eine reversible Senkung des Auslasswiderstands, was mehr Patienten die Möglichkeit gibt, individuelle Therapiekonzepte zu testen, und die Compliance mit dem Blasenmanagement erhöht. Aktuell werden Verfahren zur Neuromodulation, Elektrostimulation oder Nervenregeneration getestet, um die eigentliche Ursache der NBFS – den Verlust der nervalen Kontrolle über den unteren Harntrakt – zu beseitigen, jedoch liegen für keines dieser Verfahren valide Ergebnisse vor.
- Therapie und Rehabilitation bei neurogener Blasen- und Darmstörung
Stand der neurourologischen Möglichkeiten in der Reha
J. Pannek
Neuro-Urologie, Schweizer Paraplegiker-Zentrum, Nottwil, Schweiz
Nahezu alle Patienten mit Rückenmarkläsion leiden unter einer neurogenen Blasenfunktionsstörung (NBFS). Als Folge der gestörten Speicher- und Entleerungsfunktion besteht einerseits das Risiko einer irreversiblen Nierenfunktionsstörung, andererseits führt eine NBFS oft zu einer massiven Einschränkung der Lebensqualität.
Besonders Patienten mit einer traumatischen Querschnittlähmung werden in Europa nach dem Unfallereignis stationär rehabilitiert. In dieser Phase ist es essenziell, die NBFS zu klassifizieren, die Risiken für den oberen Harntrakt zu evaluieren und die adäquate Versorgung der NBFS zu determinieren.
Nach Ablauf des spinalen Schockphase sollte daher eine videourodynamische Untersuchung erfolgen. Basierend auf den Resultaten der Urodynamik wird das weitere Konzept geplant. Neben der Form der Blasenfunktionsstörung sind hierbei mentale und manuelle Einschränkungen der Betroffenen, Geschlecht, Lähmungshöhe, Alter und die zukünftige Lebensform sowie ggf. das berufliche Umfeld zu berücksichtigen. Die neurourologischen Möglichkeiten in der Reha können wegen ihrer Komplexität daher nicht allein vom Urologen festgelegt werden, sondern nur durch gemeinsame Gespräche mit den betreuenden Rehabilitationsmedizinern und den Betroffenen, ggf. unter Hinzuziehung von Angehörigen, Sozialarbeitern und Ergotherapeuten. Als allgemeine Regel gilt, dass in der Erstrehabilitation möglichst keine irreversiblen operativen Eingriffe vorgenommen werden sollten, um ein mögliches Regenerationspotenzial noch adäquat ausschöpfen zu können. Die neurourologische Rehabilitation in der Reha ist somit immer ein individueller Prozess unter Einbeziehung diverser Fachdisziplinen und sollte daher idealerweise an einem hierfür adäquat ausgestatteten Zentrum erfolgen.
Darmmanagement beim querschnittgelähmten Patienten
H. Allmer
AUVA-Rehabilitationsklinik Tobelbad
Ein querschnittgelähmter Patient steht ständig vor dem Problem, seine Defäkation nicht bzw. nicht 100%ig kontrollieren zu können. Man spricht von einer fäkalen Inkontinenz. Dies ist das Unvermögen, den Stuhldrang und die voraussichtliche Stuhlkonsistenz zu verspüren. Der ungewollte Stuhlverlust ist kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern ein Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung.
Die Kontinenz wird gewährleistet durch:
- Beckenbodenmuskulatur (willkürlich gesteuert)
- Inneren Schließmuskel (unwillkürlich gesteuert)
- Äußeren Schließmuskel (willkürlich gesteuert).
Läsion des oberen motorischen Neurons („upper motor neuron lesion“ [UMNL]) Liegt die Schädigung oberhalb des Sakralmarksegmentes S2 (entspricht der Höhe des 12. Brust- bis 1. Lendenwirbelkörpers), ist der Stuhlentleerungsreflex noch erhalten. Das Stuhldranggefühl fehlt oder ist herabgesetzt. Die willkürliche Anspannung des äußeren Schließmuskels ist nicht mehr möglich und deshalb kommt es zur unwillkürlichen Entleerung der unteren Darmabschnitte. Der Spannungszustand des inneren Schließmuskels ist erhöht.
Läsion des unteren motorischen Neurons („lower motor neuron lesion“ [LMNL]) Der Reflexbogen ist bei einer Schädigung ab dem Sakralmarksegment (S2–S4) unterbrochen und so wie beim UMNL ist die Empfindung für den Stuhldrang herabgesetzt oder fehlt gänzlich. Es kommt durch den autonomen Darm noch zu einer geringen Kontraktion des inneren glatten Schließmuskels. Der äußere quergestreifte Schließmuskel ist ständig erweitert (schlaffe Lähmung des Anus), deshalb kommt es häufig zum unfreiwilligen Stuhlabgang. Eine willkürliche Entleerung ist nicht möglich.
Mischtypen Es gibt auch Kombinationen aus UMNL und LMNL. Dies ist meist bei inkompletten thorakolumbalen Verletzungen der Fall. Hier können eine Restfunktion des inneren und äußeren Schließmuskels sowie ein Stuhldranggefühl vorhanden sein.
Bei einer Läsionshöhe unterhalb von S4 ist eine willkürliche Entleerung möglich, jedoch schafft der schlaffe Anus eine Inkontinenz.
Bei einer Kaudalähmung fallen durch die Unterbrechung der spinalen Nervenwurzeln im Bereich der Cauda equina alle Verbindungen zwischen Sakralmark und Sigmoid-Rektum aus, wodurch eine willkürmotorische Kontrolle des Stuhlgangs verhindert wird. Folgen daraus sind:
- Inkontinenz
- Anschließende, teils hartnäckige Obstipation
Pflegerische Ziele beim Darmmanagement
- Patient und Angehörige sind aufgeklärt und informiert.
- Darmentleerung erfolgt zur geplanten Zeit und am geplanten Ort.
- Körperersatzzeichen (Völlegefühl, Blähungen, Bauchkrämpfe, Kopfschmerz, erhöhter Ruheblutdruck, Gänsehaut, Schwitzen) vor der Darmentleerung werden erkannt.
- Geeignete Entleerungstechnik und Hilfsmittel wurden gefunden.
- Selbstständige Verabreichung der Suppositorien.
- Bewusster Umgang mit Laxantien.
- Patient weiß über stuhlbeeinflussende Faktoren Bescheid.
- Inkontinenzfreie Intervalle.
- Selbstständige Konsistenzkontrolle.
- Intakte Haut im Analbereich.
- Patient beherrscht das Darmmanagement und kann im Alltag angepasst an seinen individuellen Lebensrhythmus reagieren.
Einflüsse auf die Darmentleerung
- Ernährung
- Flüssigkeitsmenge
- Medikamente
- Bewegung
- Psychische Faktoren
Ernährung und Trinkverhalten: Der Erfolg eines Entleerungsprogramms hängt stark von der Ernährung ab. Diese sollte ausgewogen sein und auch in der richtigen Menge zugeführt werden. Eine Gewichtszunahme sollte vermieden werden. Man kann auch hier nur Empfehlungen abgeben, da der menschliche Körper individuell auf Nahrungsbestandteile reagiert.
Medikamente/Laxantien: Laxantien sind Medikamente, deren Wirkstoffe die Defäkation beschleunigen. Beim querschnittgelähmten Patienten kann eine Abänderung der vom Hersteller empfohlenen Dosierung des Laxans notwendig sein und auch dessen Wirkungseintritt abweichen. Laxantien werden nach ärztlicher Anordnung verabreicht. Der Wirkungseintritt beträgt ca. 8–10 Stunden.
Transanale Irrigation Spülen des Darms mit körperwarmem Wasser. Grundsätzlich darf die anale Irrigation nur nach ärztlicher Anordnung und Unterweisung durch qualifiziertes Fachpersonal durchgeführt werden.
Kontraindikationen für anale Irrigation
- Phase des spinalen Schocks
- Bekannter Verschluss des Dickdarmes
- Akute entzündliche Darmerkrankungen (z. B. Morbus Crohn, Colitis ulcerosa)
- Analfissuren, ausgeprägte Hämorrhoiden (Grad III und IV)
- Autonome Dysreflexie
- Radiologische Bestrahlungstherapie im Bauch- und Beckenbereich
- Komplikationen und Spätfolgen
- Paradoxer Durchfall
- Obstipation
- Hautirritationen
Darmentleerungsschema Gemeinsam mit dem Betroffenen wird ein individuelles Schema zur Darmentleerung erstellt. Folgende Punkte müssen bei der Darmentleerung beachtet werden:
- Uhrzeit
- Ort
- Rhythmus
- Laxantien
- Hilfsmittel zur Darmentleerung
- Techniken zur Unterstützung der eingeleiteten Darmentleerung
- Ernährung und Trinkverhalten
Literatur:
Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (Hrsg.). Ganzheitliche Rehabilitation – eine multiprofessionelle Aufgabe. Handbuch für die Praxis. 7. Aufl. Allgemeine Unfallsversicherungsanstalt, Wien, 2012.
SAMSTAG, 19. OKTOBER 2013
- Klinische Forschung in der Physiotherapie
Forschen und Publizieren als „Nebenjob“
E. Pulker
Praxis für Physiotherapie, Innsbruck
In meiner Berufsarbeit als Physiotherapeutin an den Landeskliniken Salzburg habe ich im fachlichen Austausch mit Gynäkologen, Urologen und Proktologen der Klinik mein Interesse für das Forschen entdeckt. An der Klinik wurde mir dann auch die nötige Zeit zur Verfügung gestellt, um meine drei Studien durchzuführen. Zwei Studien untersuchten die Auswirkungen des Beckenbodenmuskeltrainings auf die Belastungsinkontinenz bei der Frau und beim Mann und eine dritte befasst sich mit der Verbesserung bei Symptomen der Stuhlinkontinenz.
In einem der Gespräche mit einem Gynäkologen über die guten Erfolge der Physiotherapie bei der Harninkontinenz der Frau meinte er nur kurz: „Nach ein paar Jahren, wenn die Patienten dann nicht mehr zur Therapie kommen, ist wieder alles beim Alten.“ Diese Aussage war für mich der Anlass, meine Studie zur Langzeitwirkung bei weiblicher und männlicher Harninkontinenz sowie Stuhlinkontinenz zu machen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass diese drei Studien gezeigt haben, dass der Therapieerfolg über die Folgejahre gehalten werden kann. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das selektive Aktivieren der Muskulatur des Beckenbodens in den Alltag transferiert und eine dauerhafte Verbesserung der Körperhaltung, ohne dass eine neuerliche Therapie notwendig wäre, angestrebt werden muss. Nur eine der insgesamt 123 Patienten hat sich im Verlauf der 4 Jahre Nachuntersuchungszeitraum operieren lassen.
Literatur:
Carriere B. Beckenboden. Thieme Verlag, Stuttgart-New York, 2003.
Pulker E. Stuhlinkontinenz – Risikogruppe „Frau“ – Physiotherapie. J Urol Urogynäkol 2005; 12 (SH 4): 18–9.
Pulker E. Wirkungsnachweis physiotherapeutischer Behandlung bei Patientinnen mit Stress-Harninkontinenz. Krankengymnastik – Zeitschrift für Physiotherapeuten 2000; 52: 1879–84.
Harninkontinenz beim Husten: Ein Vergleich zweier Körperpositionen
S. Mayrhofer
Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation, Krankenhaus der Elisabethinen Linz
Einleitung Viele chronische Lungenerkrankungen sind gekennzeichnet durch das Vorhandensein von vermehrtem oder schlecht zu mobilisierendem pulmonalem Sekret sowie vermehrtem Husten. Sekretfördernde forcierte Atemmanöver (z. B. Husten) sind für die Betroffenen häufig mit Harnverlust verbunden, die Prävalenz an Harninkontinenz ist bei Frauen und Mädchen mit chronischen Lungenerkrankungen (z. B. zystischer Fibrose oder COPD) besonders hoch. Neben einer Minderung der Lebensqualität kann sich die Harninkontinenz auch negativ auf die Adhärenz bei sekretmobilisierenden atemphysiotherapeutischen Techniken auswirken, deren konsequente Durchführung jedoch entscheidend für den weiteren pneumologischen Krankheitsverlauf ist [1].
Aufgrund der hohen Relevanz dieses Themas wurde es mir genehmigt, disziplinübergreifend dieses spannende urogynäkologische Thema als Abschlussarbeit im Rahmen des Lehrganges für kardiorespiratorische Physiotherapie zu wählen und so meine beiden beruflichen Schwerpunkte miteinander zu verbinden.
Hintergrund zur Pilotstudie Empirische Erfahrungen lassen vermuten, dass sich bei Frauen mit Belastungsharninkontinenz durch das Einnehmen einer aufrechten und zur Seite gedrehten Haltung während des Hustens der Harnverlust reduzieren lässt [2, 3]. Dies sollte in dieser Pilotstudie untersucht werden.
Methode Neun Frauen führten in zwei verschiedenen Sitzpositionen (in flektierter sowie in aufrechter und zur Seite gedrehter Haltung) je 5 Hustenstöße durch. Die Menge des Harnverlustes wurde mittels Pad-Test festgestellt, wobei sowohl Blasenfüllung als auch Hustenstärke standardisiert wurden.
Ergebnisse Die Menge des Harnverlustes war sehr gering, Mediane der Harnverlustmengen betrugen in der flektierten Haltung 0,08 g (± 4,83) und in der aufrechten, rotierten Haltung 0,18 g (± 1,59). Lediglich eine Probandin zeigte größere Mengen Harnverlust (14,55 g in der flektierten und 4,79 g in der aufrechten und zur Seite gedrehten Haltung). Die Mittelwerte der „peak cough flow“ lagen in der aufrechten Haltung (6,0 l/s) etwas höher als in der flektierten Haltung (5,6 l/s), jedoch innerhalb der geforderten 15 %.
Schlussfolgerung Die in der Studie gemessenen, sehr geringen Harnverlustmengen standen in Diskrepanz zu den während der Urodynamik gemessenen Mengen und der Anamnese hinsichtlich des Harnverlustes beim Husten. Eine Aussage über die Wirksamkeit der aufrechten, gedrehten Haltung beim Husten konnte mangels statistisch verwertbarer Daten – aufgrund geringer Harnverlustmengen und kleiner Fallzahl – nicht erbracht werden. Weiterführende Studien sollten die Ein- und Ausschlusskriterien verändern, um vermehrt Frauen mit größeren Harnverlustmengen beim Husten in sitzender Position einzuschließen. Das Studiendesign dazu erwies sich als praktikabel.
Literatur:
1. Dodd M, Langmann H. Urinary incontinence in cystic fibrosis. J R Soc Med 2005; 98 (Suppl 45): 28–36.
2. Norton P, Baker J. Postural changes can reduce leakage in women with stress urinary incontinence. Obstet Gynecol 1994; 84: 770–4.
3. Sapsford RR, Richardson CA, Maher CF, et al. Pelvic floor muscle activity indifferent sitting postures in continent and incontinent women. Arch Phys Med Rehabil 2008; 89: 1741–7.
Weitere Literatur bei der Verfasserin.
Beckenbodentraining bei weiblicher Inkontinenz mit Augenmerk auf das Gleichgewicht
E. Udier
Praxis für Physiotherapie, Klagenfurt
Beeinflusst Beckenbodentraining, das aufgrund von urinaler Inkontinenz durchgeführt wird, das Gleichgewicht bei Frauen mit urinaler Inkontinenz?
Zusammenfassung Da sowohl Harninkontinenz (UI) als auch Gleichgewicht (GG) ernst zu nehmende Probleme der Patientinnen sind und die Lebensqualität stark beeinflussen können, wird mit der vorliegenden Studie zwischen diesen beiden Themen therapeutisch eine Brücke geschlagen. Es ist zu prüfen, inwiefern eine Überprüfung der Beckenboden- (BB-) Funktion und bei Bedarf anschließend ein Beckenbodentraining bei Patientinnen, die über Gleichgewichtsschwierigkeiten klagen, dienlich wäre.
Ziel einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des Menschen, also auch in der Physiotherapie, ist, dass Dysfunktionen des Beckenbodens nicht erst dann behandelt werden, wenn sich Symptome in diesem Bereich zeigen. In Zukunft soll die funktionelle Untersuchung des Beckenbodens genauso zum muskulären und funktionellen Status gehören wie bei anderen Muskelgruppen auch.
Einleitung Beckenbodentraining bei Harninkontinenz ist evidenzbasiert und stützt sich auf eine weite Literaturliste [1]. Was hat allerdings Beckenbodentherapie bei Harninkontinenz mit Gleichgewicht zu tun? Beide Störungen, die der Harninkontinenz und des Gleichgewichts, sind große gesundheitliche Herausforderungen, die im Alter dazu führen können, dass die Betroffenen auf fremde Hilfe angewiesen sind. Beide Bereiche werden physiotherapeutisch behandelt. Patienten kommen aufgrund der einen oder anderen Beschwerde in die Therapie.
Dass bei Patientinnen mit Harninkontinenz das Gleichgewicht signifikant schlechter ist als bei kontinenten Probandinnen, wurde von Smith mit EMG anhand einer kleinen Probandinnengruppe gezeigt [2]. Es stellt sich die Frage, ob diese Zusammenhänge zwischen Gleichgewicht und Harninkontinenz Dysfunktionen der Beckenbodenmuskulatur betreffen. Hodges zeigte mit gesunden Probanden, dass der Beckenboden auch an der posturalen Kontrolle und an der Atemfunktion beteiligt ist. Er stellte fest, dass der Beckenboden immer vor der Armbewegung aktiviert wird [3]. Es wird auch die Feedforward-Aktivierung des TrA von Hodges und Richardson getestet und im Buch Segmentale Stabilisation im LWS- und Beckenbereich beschrieben.
Smith testete Frauen mit und ohne Harninkontinenz bezüglich posturaler Kontrollfunktion im ruhigen Stand. Bei Frauen mit Harninkontinenz wird die Muskelaktivität des Beckenbodens kurz vor einer Armaktivierung kurzfristig vermindert, zu einer Zeit, wo bei kontinenten Frauen der Beckenboden, TrA und die Mm. Multifidii bereits „feedforward“ aktiviert werden. Die Beckenbodenaktivität ist bei Frauen mit Harninkontinenz verspätet. Im Anschluss allerdings ist die Aktivität größer als bei Beckenboden-gesunden Frauen. Diese Unterschiede könnten auch einen entscheidenden Faktor beim Gleichgewicht darstellen. Auch beim Gleichgewicht ist der Zeitpunkt der Muskelaktivierung, das Timing, wichtig. Ist die Aktivierung der Muskulatur zu spät, könnte die Person bereits stürzen [4].
In einer weiteren Studie testete Smith die Muskelaktivität über EMG und das Gleichgewicht bei kontinenten und inkontinenten Frauen. Bei Frauen mit Harninkontinenz wird die Beckenbodenaktivität bei gering gefüllter Blase mehr herabgesetzt als in der Kontrollgruppe. Es wird gezeigt, dass Frauen mit Harninkontinenz größere Veränderungen des Schwerpunktes aufweisen als kontinente Frauen und dass sie ein signifikant geringeres Gleichgewicht haben als Personen ohne Harninkontinenz [2]. Diese Dysfunktionen können auch therapeutische Konsequenz haben, indem die Beckenbodenmuskulatur bewusst ins funktionelle Training einbezogen wird.
Im klinischen Alltag macht es den Anschein, als ob eine Therapie, die aufgrund einer Harninkontinenz durchgeführt wird, auch das Gleichgewicht positiv beeinflusst. Die Faktoren, die hier entscheidend sein könnten, sind die Somatosensorik im Bereich des Beckenbodens, die Muskelkraft des Beckenbodens und der umliegenden Bereiche sowie das funktionelle Zusammenspiel dieser Muskulatur.
Tests Abfolge von Gleichgewichts-, Beckenboden- und Harninkontinenzmessungen und 7 Physiotherapie-Einheiten .
Tests: S3-Körperstabilisationstest, Einbeinstand mit offenen und mit geschlossenen Augen, deutscher Inkontinenzfragebogen, PERFect-Muskelmessung und Miktionsprotokoll.
Therapie
Information: Anatomie, Miktion, Trinkverhalten, Defäkation, Ernährungs- und Bewegungsverhalten, Miktionsprotokoll besprochen.
Manuelle Techniken: Die Studie stützt sich auf klinische Erfahrung und auf Empfehlungen der manuellen Techniken von van den Berg und Carrière [5].
Selektives BB-Training: Für das Wiedererlernen der Ansteuerung der Beckenbodenmuskulatur wurde zuerst die interne, digitale Palpation als Feedback eingesetzt.
Funktionelles Training: Für die Rumpfkapsel stützte sich die vorliegende Studie auf die Erklärung aus Sapsfords Studie [6].
Klinische Relevanz In der Studie werden mehrere Therapieschritte beschrieben und miteinander kombiniert. Damit ist die Studie sehr praxisnahe, allerdings gleichzeitig nicht so aussagekräftig, was die einzelnen Therapieinterventionen betrifft.
Es wird die Auswirkung auf ein sekundäres Ziel, nämlich das verbesserte Gleichgewicht durch eine verbesserte Beckenboden- und Rumpfkoordination, beobachtet und getestet. Dies stellt einen sehr komplexen Vorgang dar. Physiotherapie hat genau in diesen Bereichen ihre Stärke: das Selektive und das Funktionelle gleichzeitig zu beobachten und zu beeinflussen.
Die vorliegende Studie zeigt auch, dass der Beckenboden auch bei Gleichgewichtsschwierigkeiten untersucht und bei Bedarf behandelt werden soll. Diese Intervention ist bei Therapie aufgrund von Gleichgewichtsschwierigkeiten noch nicht üblich.
Die Umsetzung der Beobachtungen von Smith und Hodges [2, 3] in die Therapie und somit auch in den Alltag kann Gleichgewichtsschwierigkeiten hintanhalten und somit die Selbstständigkeit und auch das Selbstbewusstsein dieser Frauen steigern.
In der Summe kann man sagen, dass Beckenbodentherapien das Gleichgewicht beeinflussen. Wie groß der Einfluss ist, werden weitere, größer angelegte Studien zeigen. Mit multizentrischen Studien wird die Generalisierbarkeit der Aussagen stärker.
Literatur:
1. Neumann PB, Grimmer KA, Deenadayalan Y. Pelvic floor muscle training and adjunctive therapies for the treatment of stress urinary incontinence in women: a systematic review. BMC Womens Health 2006; 6: 11.
2. Smith MD, Coppieters MW, Hodges PW. Is balance different in women with and without stress urinary incontinence? Neurourol Urodyn 2008; 27: 71–8.
3. Hodges PW, Sapsford R, Pengel LH. Postural and respiratory functions of the pelvic floor muscles. Neurourol Urodyn 2007; 26: 362–71.
4. Smith MD, Coppieters MW, Hodges PW. Postural activity of the pelvic floor muscles is delayed during rapid arm movements in women with stress urinary incontinence. Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 2007; 18: 901–11.
5. Carrière B. Beckenboden. 1. Aufl. Thieme, Stuttgart, 2003.
6. Sapsford R. Rehabilitation of pelvic floor muscles utilizing trunk stabilization. Man Ther 2004; 9: 3–12.
- Beckenbodenprolaps – Was tun?
Rektumprolaps
F. Herbst
Chirurgische Abteilung, KH der Barmherzigen Brüder Wien
Einleitung Der Rektumprolaps (RP) ist eine eher seltene, benigne Erkrankung, die die Lebensqualität der betroffenen Personen oft massiv einschränkt. Ziel dieser Übersicht ist die Darstellung der aktuellen Positionen zu Grundlagen und Therapie im Erwachsenenalter.
Definition, Ätiologie und Epidemiologie Ein kompletter Rektumprolaps ist definiert durch das Heraustreten des Rektums vor den Anus, wobei alle Wandschichten betroffen sind. Kommt es zu einer Protrusion des Rektums, die nicht ganz nach außen reicht, liegt ein inkompletter Rektumprolaps (Intussuszeption) vor. Als Voraussetzungen für das Entstehen eines RP gelten das Vorliegen eines abnorm tiefen Douglasraums, Tonusverlust und Schwäche der Beckenbodenmuskulatur, die oft mit einer Pudendusneuropathie kombiniert ist, und das Fehlen der normalen Fixierung des Rektums. Der RP tritt am häufigsten an den Altersextremen auf. Im Kindesalter meist bis zum 3. Lebensjahr diagnostiziert, liegt der Häufigkeitsgipfel bei Erwachsenen nach der fünften Dekade und Frauen sind zu 80–90 % betroffen.
Symptome und Diagnose Neben dem intermittierenden oder dauerhaften Vorfall mit chronischer Überdehnung des Analkanals besteht bei mehr als der Hälfte der Patienten eine Stuhlinkontinenz variablen Schweregrads, während eine begleitende chronische Obstipation bei 15–65 % vorliegt. Während der RP im Frühstadium spontan reponieren kann, muss bei den fortgeschrittenen Formen der Darm manuell wieder rückverlagert werden. Selten kann es zu einer Einklemmung kommen, die eine sofortige Therapie erfordert. Die Diagnose ist bei den kompletten Formen durch den typischen Untersuchungsbefund klinisch eindeutig zu stellen, oft hilft eine sitzende Untersuchungsposition. Zur Diagnose eines inkompletten RP sind die funktionelle Rektoskopie und die Defäkographie hilfreich. Die Koloskopie dient zum Ausschluss anderer relevanter Dick- und Enddarmerkrankungen.
Therapie Ziel der Behandlung ist die dauerhafte Vermeidung des RP, Wiedererlangung der Kontinenz sowie Vermeidung von Obstipation und Defäkationsstörung. Diese Ziele können durch perineale oder abdominelle Verfahren erreicht werden, wobei der redundante Darm dabei reseziert, pliziert und/oder am Sakrum fixiert wird. Die Kontinenz kann durch eine zusätzliche Levatorplastik verbessert werden. Die Verfahrenswahl richtet sich nach dem Allgemeinzustand und der Belastbarkeit der Patienten. Perineale Verfahren gelten als weniger belastend und werden daher vorwiegend bei betagten und multimorbiden Patienten eingesetzt. Die abdominellen Verfahren werden aktuell überwiegend laparoskopisch durchgeführt, wodurch die postoperative Rehabilitation beschleunigt und Komplikationen reduziert werden können.
Abdominelle Verfahren Am häufigsten werden die klassischen Rektopexieverfahren mit/ohne begleitende Sigmaresektion angewendet, wobei die Durchtrennung der lateralen Ligamente zu Obstipation und Entleerungsstörung führen kann. In Europa wurde als Alternative die ventrale Mesh-Rektopexie entwickelt, die einerseits durch nur minimale ventrale Rektumdissektion die Morbidität reduziert und andererseits eine effektive Korrektur begleitender vaginaler Zelen- und Prolapsbildungen ermöglicht.
Perineale Verfahren Es werden hauptsächlich zwei Methoden verwendet, die das prolabierende Rektum entweder durch Mukosektomie und Plikatur ausschalten (Delorme) oder komplett entfernen (Altemeier). Bei letzterer Operation wird die Darmkontinuität mittels kolanaler Anastomose wiederhergestellt, die in dieser Situation nur eine geringe Morbidität aufweist. In den vergangenen Jahren sind auch Resektionsverfahren mit mechanischen Nahtgeräten entwickelt worden, die die Operationszeiten verkürzen, die Kosten hingegen massiv erhöhen.
Wahl des Operationsverfahrens Die Entscheidung muss individuell abgestimmt werden, wobei keine verbindlichen Guidelines vorliegen. Man geht davon aus, dass nach abdominellen Verfahren weniger Rezidive auftreten (5–10 % abdominell versus 20–40 % perineal), im Gegenzug aber die Belastung der perinealen Verfahren geringer ist. Diese können auch im Bedarfsfall wiederholt werden. Bei jungen Männern vermeiden perineale Verfahren wie die Delorme-OP das Risiko einer Erektions- und Ejakulationsstörung, bei jungen Frauen das Auftreten von Dyspareunie und einer Fertilitätsstörung.
Diagnose und Therapie des inkompletten Rektumprolaps Die Diagnose wird meist im Rahmen der Durchuntersuchung wegen Obstipation und rektaler Entleerungsstörung gestellt. Im Gegensatz zum kompletten RP ist hier eine intensive konservative Therapie erste Wahl, nur Therapieversager werden operativ behandelt. Auch hier besteht kein internationaler Konsens und es wird eine Vielzahl von abdominellen und perinealen Verfahren verwendet. Beispielsweise wird in Nordamerika die laparoskopische Resektionsrektopexie favorisiert, in Europa hingegen die laparoskopische ventrale Mesh-Rektopexie oder die STARR-Operation bevorzugt.
Zusammenfassung
- Der Rektumprolaps ist eine benigne Erkrankung, die im Erwachsenenalter überwiegend bei Frauen nach der fünften Dekade auftritt.
- Die Diagnose wird bei den kompletten Formen klinisch, bei den inkompletten Formen radiologisch und endoskopisch gestellt.
- Die Therapie des kompletten RP ist operativ. Es stehen abdominelle und perineale Operationsverfahren zur Verfügung, wobei das Rezidivrisiko der abdominellen Verfahren generell als geringer, die perioperative Belastung hingegen als höher einzustufen ist. Die Wahl des Operationsverfahrens muss daher individuell auf die Betroffenen abgestimmt werden. Die abdominellen Operationen werden heutzutage vorzugsweise laparoskopisch durchgeführt.
- Die Diagnose des inkompletten RP wird meist im Rahmen der Abklärung bei Defäkationsstörung gestellt.
- Die Therapie des inkompletten RP ist als Behandlung der zugrunde liegenden Defäkationsstörung grundsätzlich konservativ, nur bei Versagen kommen operative Verfahren zum Einsatz, wobei abdominelle und perineale Techniken zur Verfügung stehen. Die Verfahrenswahl richtet sich nach lokaler Erfahrung und Expertise, einheitliche Leitlinien fehlen.
Literatur:
Cirocco WC. The Altemeier procedure for rectal prolapse: an operation for all ages. Dis Colon Rectum 2010; 53: 1618–23.
Harmston C, Jones O. The evolution of laparoscopic surgery for rectal prolapse. Int J Surg 2011; 9: 370–3.
Lee S, Kye BH, Kim HJ, et al. Delorme’s procedure for complete rectal prolapse: does it still have it’s own role? J Korean Soc Coloproctol 2012; 28: 13–8.
Melton GB, Kwaan MR. Rectal prolapse. Surg Clin North Am 2013; 93: 187–98.
Sajid MS, Siddiqui MR, Baig MK. Open vs laparoscopic repair of full-thickness rectal prolapse: a re-meta-analysis. Colorectal Dis 2010; 12: 515–25.
Sehmer D, Marti L, Wolff K, et al. Midterm results after perineal stapled prolapse resection for external rectal prolapse. Dis Colon Rectum 2013; 56: 91–6.
van Geluwe B, Wolthuis A, Penninckx F, et al. Lessons learned after more than 400 laparoscopic ventral rectopexies. Acta Chir Belg 2013; 113: 103–6.
Vaginal- und Uterusprolaps
F. Roithmeier
Beckenbodenzentrum Linz, Abteilung für Gynäkologie, KH der Barmherzigen Schwestern Linz
Zusammenfassung Unter Descensus uteri oder vaginae versteht man das Tiefertreten des Uterus bzw. – wenn dieser bereits entfernt worden ist – der Vagina bis zum Hymenalsaum. Beim Austritt vor die Hymenalsaumebene spricht man von Vaginal- oder Uterusprolaps [1].
Bei der präoperativen Diagnostik liegt das Hauptaugenmerk auf der urogynäkologischen Anamnese und der klinischen Untersuchung mittels getrennter Spekula. Ergänzend stehen Sonographie und bei gleichzeitigen Inkontinenzbeschwerden die Urodynamik zur Verfügung. Im Einzelfall kann weitere Spezialdiagnostik erforderlich sein [1].
Im konservativen Bereich stellen lokale Östrogenisierung, Beckenbodentraining und die Pessartherapie eine mögliche Option dar, bei ausgeprägtem Prolaps wird jedoch allenfalls eine Besserung der Symptome bei der Patientin zu erreichen sein, sodass letztlich in der Behandlung die operative Sanierung in den Vordergrund rückt.
Operativ stehen dem Urogynäkologen der vaginale und der abdominale/laparoskopische Zugangsweg offen [2, 3]. Ob die Hysterektomie im Rahmen der Sanierung erfolgen soll, ist u. a. vom Wunsch der Patientin abhängig [4]. Jedenfalls ist im Falle einer Prolapshysterektomie auf die apikale Fixierung ein besonderes Augenmerk zu legen. Es stehen hierbei verschiedene klassische Operationsverfahren zur Verfügung, die zum Teil von der hauseigenen Operationsschule modifiziert und nur zum Teil wissenschaftlich überprüft worden sind; sakrospinale Vaginaefixatio, Kuldoplastik nach McCall und Sakrokolpopexie sind die bekanntesten. In den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben meshgestützte Verfahren [5, 6].
Im Vortrag sollen die Fixationstechniken unter Berücksichtigung der Leitlinien der Fachgesellschaften und aktuellen Literatur übersichtlich dargestellt und Indikationen sowie mögliche Kontraindikationen aufgezeigt werden.
Take-Home Messages
1. Eine exakte urogynäkologische Anamnese und Untersuchung ist die Basis für eine erfolgreiche Therapie.
2. Vor operativen Maßnahmen soll das konservative Behandlungsspektrum ausgeschöpft – oder zumindest angeboten – werden.
3. Bei der operativen Prolapskorrektur stehen verschiedene Zugangswege und Techniken zur Verfügung, die nur zum Teil wissenschaftlich untersucht worden sind. Die Indikation für Fremdmaterialien und manche Operationsmethoden ist hierbei kritisch zu hinterfragen.
Literatur:
1. Tunn R, Hanzal E, Perucchini D. Urogynäkologie in Praxis und Klinik. 2. Aufl. De Gruyter, Berlin, 2009.
2. Graefe F, Marschke J, Dimpfl T, et al. Vaginal vault suspension at hysterectomy for prolapse – myths and facts, anatomical requirements, fixation techniques, documentation and cost acconting. Geburtsh Frauenheilk 2012; 72: 1099–106.
3. Spanknebel B, Dimpfl T. Descensus genitalis – klassische operative Konzepte. Gynäkologe 2013; 7: 458–62.
4. Maher CF, Cary MP, Slack MC, et al. Uterine preservation or hysterectomy at sacrospinous colpopexy for uterovaginal prolapse? Int Urogynecol J 2001; 12: 381–5.
5. van Geelen JM, Dwyer PL. Where to for pelvic organ prolapse treatment after the FDA pronouncements? Int Urogynecol J 2013; 24: 707–18.
6. Jacquetin B, Fatton B, Rosenthal C, et al. Total transvaginal mesh technique for treatment of pelvic organ prolapse: a 3-year prospective follow up study. Int Urogynecol J 2010; 21: 1455–62.
- Festvortrag
Warum ist das Thema „Harninkontinenz“ für den Geriater so bedeutungsvoll?
F. Böhmer
Österreichische Plattform für interdisziplinäre Alternsfragen
Die Harninkontinenz im Alter ist eine tabuisierte Epidemie, die sich aufgrund der demographischen Entwicklung kontinuierlich ausbreitet.
In einem Kurzvortrag wird versucht, den Titel des Referates mit vier Kardinalsymptomen zu begründen:
- Weil HI im Alter am häufigsten vorkommt.
- Weil HI zu den Giganten der Geriatrie zählt.
- Weil HI im Alter selten alleine vorkommt (Multimorbidität).
- Weil HI als Gesundheitsproblem nicht ausreichend wahrgenommen wird.
Nicht zu vernachlässigen ist neben der medizinischen, pflegerischen und sozialen Bedeutung die ökonomische Dimension, die in diesem Zusammenhang zu tragen kommt. Es ist bemerkenswert, dass während meiner langjährigen Tätigkeit als ärztlicher Direktor der doch auffallend hohe Preis an Inkontinenzhilfsmitteln und deren Entsorgung nie ein Thema war, wogegen die Bewilligung von Mineralwasser langer Diskussionen bedurfte.
Die Harninkontinenz im Alter tritt vorwiegend gemeinsam mit anderen die Lebensqualität beeinflussenden Erkrankungen auf und hat somit wesentlichen Einfluss auf den Krankheitsverlauf. Trotz aller dieser seit Langem bekannten Tatsachen und oftmals publizierten Zusammenhänge wird die Bedeutung der Harninkontinenz im klinischen Alltag missachtet.
- Aktuelle Information & Diskussion
Internet – ein neuer Weg, um die Betroffenen zu erreichen?
I. Zauner
Kontinenz- und Stomaberatung, KH der Barmherzigen Schwestern Ried
Blase und Darm – kaum beachtet, solange alles funktioniert. Und aus Unwissenheit oft falsch behandelt: zu frühe Sauberkeitserziehung, Entleeren mittels Bauchpresse, zu kleine oder zu große Miktionsintervalle und vieles mehr. Dabei könnten Schäden oft vermieden werden, würden die Menschen besser informiert sein.
Kommt es zu einer Fehlfunktion (z. B. Inkontinenz, Entleerungsstörung), führt das Wissensdefizit häufig zu unnötigem Leid – viele Betroffenen reden nicht mit ihrem Arzt darüber, weil sie glauben, es handle sich um eine normale Alterserscheinung.
Überlegung: Wie kann man die Menschen erreichen und ihnen unnötiges Leid ersparen?
Auf Facebook tummeln sich viele Menschen jeden Alters – hier gibt es also eine Möglichkeit, Informationen zu verteilen. Für diesen Zweck wurde die Informationsseite „Kontinenz Info-Page“ eingerichtet. Hier veröffentliche ich regelmäßig:
- Allgemeine Informationen zu Blase und Darm
- Tipps zur Erhaltung der Blasen- und Darmgesundheit
- Informationen über Inkontinenz, Entleerungsstörungen, Stoma
- Therapiemöglichkeiten
- Veranstaltungen
Lesen kann auf der Seite jeder, auch jene, die nicht bei Facebook registriert sind: www.facebook.com/kontinenz
Eine weitere Möglichkeit, die das Internet bietet, ist die Vernetzung des Fachpersonals: über Listen, die per E-Mail versendet und ständig aktualisiert werden, oder über interaktive Landkarten, aus denen mit einem Klick ersichtlich ist, wo Abklärung und Therapie angeboten werden.
Vorstellbar ist auch ein direkter Wissens- und Informationsaustausch in „Chatrooms“ – also Plätzen im Internet, die nur mit Zugangscode erreichbar sind.
Mit dem Internet stehen uns somit neue Mittel und Wege zur Verfügung, die wir erfolgreich nutzen können. Die größte Herausforderung dabei ist, in der bereits vorhandenen Datenflut nicht unterzugehen.
Medikamentöse Behandlung der OAB – Standards und Innovationen
H. Madersbacher
Innsbruck
Ein von Pollakisurie und Nykturie begleiteter imperativer Harndrang mit oder ohne Harninkontinenz ist das Schlüsselsymptom der überaktiven Blase (Overactive Bladder [OAB]). Die Therapie der ersten Wahl ist eine Kombination von Verhaltensmaßnahmen und Antimuskarinika (AM), die den überaktiven Detrusor durch Reduzierung parasympathischer Impulse in der Blase entspannen: Sie wirken, indem sie M2- und M3-Rezeptoren in der Harnblase blockieren. Die Wirkung der AM ist in zahlreichen Studien bewiesen. Die heute zur Verfügung stehenden Substanzen sind alle in etwa gleich wirksam, unterscheiden sich jedoch durch ihre Verträglichkeit und Sicherheit. Da die erwähnten M-Rezeptoren auch in anderen Organen vorkommen, führen AM zu Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit (Speicheldrüsen), Obstipation (Darm), Visusbeeinträchtigung (Ziliarmuskel) und Bauchschmerzen (Magen). 30 % der Patienten, die eine Therapie mit AM vorzeitig abbrechen, geben als Grund eine Unverträglichkeit durch diese Nebenwirkungen an.
Beta-3-Adrenozeptoragonisten – ein neues Wirkungsprinzip bei OAB Mit den Beta-3-Adrenozeptoragonisten steht nun erstmals seit der Einführung der AM eine neue Substanzklasse zur Behandlung der OAB zur Verfügung. Bislang konnte nur das parasympathische Nervensystem therapeutisch manipuliert werden. Man wusste zwar, dass die Aktivierung des Sympathikus zu einer Beruhigung der Blase führt, entsprechende klinisch einsetzbare Substanzen standen bisher nicht zur Verfügung. Das hat sich seit Kurzem geändert: Der Beta-3-Adrenozeptoragonist Mirabegron führt über eine durch Noradrenalin-induzierte Aktivierung der Beta-3-Rezeptoren via cAMP-Erhöhung zur Blasenrelaxation und ist für die Behandlung der OAB geeignet.
Wirksamkeit von Mirabegron Ein umfangreiches klinisches Programm aus 41 Studien an > 10.000 Patienten mit OAB belegt die Wirksamkeit und Sicherheit des Beta-3-Adrenozeptoragonisten Mirabegron. In den Studien konnte die Zahl der Inkontinenzepisoden pro 24 Stunden unter Mirabegron signifikant stärker gesenkt werden als unter Placebo. Ähnliche Resultate finden sich auch bei anderen untersuchten Parametern, wie z. B. bei der Miktionsfrequenz in 24 Stunden, die ebenfalls unter Mirabegron statistisch signifikant gegenüber Placebo abnahm. Bei der jeweils letzten Kontrolle zeigten diese mit Beta-3-Adrenozeptoragonisten behandelten Patienten eine signifikant höhere Therapiezufriedenheit als die Teilnehmer im Placeboarm. Die in den ersten Wochen erzielten Ergebnisse waren bei Untersuchungen über mindestens ein Jahr anhaltend, mitunter kam es im Laufe der Monate zu einer weiteren Verbesserung. Die Auswertung bei mindestens 65-jährigen Patienten zeigte, dass Ältere auf Mirabegron gleich gut ansprechen.
Verträglichkeitsprofil von Mirabegron Antimuskarinerge Nebenwirkungen sind bei Mirabegron nicht zu erwarten. Da in den Speicheldrüsen keine Beta-3-Adrenozeptoren vorhanden sind, bewegt sich die Rate an Mundtrockenheit bei Mirabegron-behandelten Patienten auf Placeboniveau. Auch die Rate an Obstipation ist geringer als unter AM.
Zusammenfassung
1. Der Beta-3-Adrenozeptoragonist Mirabegron ist der erste zugelassene Vertreter einer völlig neuen Wirkungsklasse.
2. Im Gegensatz zu AM, die am parasympathischen Teil des vegetativen Nervensystems ansetzen, wirkt die Substanz über eine Aktivierung der sympathischen Komponente.
3. In einem umfassenden Studienprogramm wurde der Therapieeffekt auch über eine lange Behandlungsdauer dokumentiert.
4. Das Sicherheitsprofil von Mirabegron ist generell sehr gut, die Häufigkeit von Mundtrockenheit bewegt sich auf Placeboniveau.
5. Die klinische Erfahrung wird zeigen, ob und bei welchen Indikationen Mirabegron die AM ersetzen kann bzw. ob mitunter eine Kombination mit AM die Pharmakotherapie der OAB noch wirksamer gestaltet.
6. Mirabegron wird voraussichtlich ab 2014 als Betmiga® auch in Österreich zur Verfügung stehen.
Neues aus der Neurourologie
W. Hübner
Abteilung für Urologie, LKH Weinviertel-Korneuburg
Neurourologische Blasenentleerungsstörungen können zu lebenslimitierenden Komplikationen des oberen Harntraktes führen, sind aber auch durch die gestörte Miktion und häufig vorhandene Inkontinenz für die Lebensqualität von zentraler Bedeutung. Für die Behandlung neurogener Blasenfunktionsstörungen gilt der 1971 von Lapides implementierte intermittierende Selbstkatheterismus (CIC) als Standardtherapie, seit Anfang der 1990er-Jahre in Kombination mit oralen Antimuskarinika. Je nach urodynamischer Befundlage kommen chirurgische Verfahren wie Blasenaugmentation und Sphinkterotomie zum Einsatz.
Die Einführung von Botulinum-A-Toxin zur Behandlung der Detrusorüberaktivität, aber auch zur Injektion in den urethralen Sphinkter sowie der routinierte Umgang mit hydraulischen Sphinktersystemen beim Mann und der Frau erlauben heute, die seit 30 Jahren etablierten Methoden zu ergänzen und teilweise zu verlassen.
Fallbeispiel 1 Pat. A. S., 43 a, männlich, St. p. L1-Fraktur, seit 4 Jahren CIC 3–4×/Tag, dazwischen Kondomurinal wegen autonomer Kontraktionen, orale Anticholinergika, Zustand nach Botox. Trotzdem weiterhin Inkontinenz, rezidivierende Harnwegsinfekte, Stauung des oberen Harntrakts.
Therapie: Blasenaugmentation und Sphinkterotomie, nach 6 Wochen Implantation eines artifiziellen Sphinkters.
Ergebnis: Unauffälliger oberer Harntrakt, Niederdrucksystem, vollständige Kontinenz, willentliche Miktion, steriler Harn.
Fallbeispiel 2 Pat. W. A., 72 a, weiblich, MS, mobil mit Gehhilfe, spastischer Beckenboden bei normo-hypokontraktilem Detrusor, seit 3 Jahren CIC 4×/Tag, zuletzt 5 therapiebedürftige Harnwegsinfekte pro Quartal.
Therapie: Injektion von 80 U Botox in 8 Portionen in den Sphinkter, nach 6 Tagen Beginn der Spontanmiktion mit Restharnmengen von 20–120 ml, keine Harnwegsinfekte.
Zusammenfassung Der Einsatz von Botulinum-A-Toxin sowohl zur Behandlung der Detrusorüberaktivität als auch zur Therapie von Sphinkterspasmen in Kombination mit chirurgischen Interventionen auch im Sinne der Implantation von hydraulischen Sphinktern erlaubt heute in entsprechenden Fällen, das seit > 30 Jahren bewährte Konzept des intermittierenden Selbstkatheterismus als zentrales Therapiekonzept bei neurourologischen Blasenentleerungsstörungen zu verlassen.
Das Prinzip eines Niederdrucksystems zur Harnspeicherung sowie der willentlichen Harnentleerung bleibt gewahrt, das Risiko etwaiger Harnwegsinfekte wird minimiert.