Die Studie untersucht das Wissen und die Einstellungen zur Reproduktionsmedizin von Frauen mit Migrationshintergrund in Deutschland sowie ihre Informationskanäle zu Gesundheitsthemen. Das Thema bezieht seine Relevanz aus den niedrigen Geburtenzahlen, der hohen Kinderlosigkeit, dem steigenden Erstgeburtsalter sowie der wachsenden Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Die Analysen basieren auf einem telefonischen Survey (n = 1001) von in Deutschland lebenden Frauen (Alter 18–50 Jahre) aus 5 Teilpopulationen mit (1) türkischem, (2) polnischem, (3) ex-sowjetischem oder (4) ex-jugoslawischem Migrationshintergrund sowie (5) ohne Migrationshintergrund. Die Zufallsstichproben wurden mittels Namensverfahren aus im Telefonverzeichnis eingetragenen Privathaushalten gezogen. Die Gruppen mit Migrationshintergrund sehen eigene Kinder zu 67 % (Polen) bis 82 % (Türkei) als Grundvoraussetzung für ein erfülltes Frauenleben an, bei Frauen ohne Migrationshintergrund ist das Meinungsbild eher ambivalent. Eigene Kinder zu haben ist aber für alle Gruppen von großer Bedeutung. Lediglich 73 % der türkischstämmigen Frauen haben schon etwas von Reproduktionsmedizin gehört, in allen anderen Gruppen sind es rund 90 %. Der Wissensstand zum Thema ist allerdings gering. In allen Gruppen zeigt sich eine große Akzeptanz homologer und eine starke Ablehnung heterologer Verfahren. 6–9 % der Befragten waren bereits in irgendeiner Form in reproduktionsmedizinischer Behandlung. Einschlägige Informationen werden vorrangig über TV und Printmedien bezogen sowie aus Fachinformationen bei Ärzten, Krankenkassen und Apotheken. Ein Drittel der befragten Frauen informiert sich primär in einer anderen Sprache als Deutsch und etwa die Hälfte präferiert eine andere Sprache zur Kommunikation mit Ärzten. Kulturelle Einflüsse führen zu hohen Erwartungen an die Behandlung. Die große Offenheit für die Thematik bei gleichzeitig geringem Wissen weist auf einen Handlungsbedarf hin, um von Infertilität betroffenen Frauen mit Migrationshintergrund informierte Entscheidungen zu ermöglichen.
Schlüsselwörter: Reproduktionsmedizin, Infertilität, Frauen mit Migrationshintergrund, kultursensible Medizin
Knowledge and Attitudes towards Assisted Reproductive Technologies of Migrant Women in Germany. The study examines knowledge and attitudes of migrant women in Germany concerning assisted reproductive technologies (ART) and their sources of health information. In Germany, social relevance of ART is increasing due to low birth-rates, a high rate of childlessness, and the rising average age at first birth. At the same time, demographic change makes migrants more important as a target audience for health care. Analysis is based on computer assisted telephone interviews (CATI) of 1,001 women aged 18 to 50, living in Germany, divided into five subpopulations: women of (1) Turkish, (2) Polish, (3) former Soviet and (4) former Yugoslav descent as well as (5) non-migrant women. The randomized samples were drawn from private households registered in the German telephone directory using an onomastic method. Having children of their own is very important to all surveyed populations, but especially to migrant women. The majority of them sees raising children as a prerequisite for a fulfilled life as a woman. About 90% of most subpopulations, but only 73% of Turkish women, have at least heard of ART. However, knowledge on the subject matter is generally low. A large portion of all respondents, particularly among migrant groups, agrees that involuntary childless couples should use all available assisted reproductive techniques. The majority would consider using ART if affected by involuntary childlessness, but would refuse heterologous methods. About six to nine per cent have already had some sort of assisted reproductive treatment. TV and magazines/newspapers are main sources of information among all surveyed populations. Professional information is mostly received from materials at the doctor’s office, health insurances or pharmacies. About a third of migrant women inform themselves primarily in languages other than German, and about half of them prefer communication with doctors in this language. Cultural influences result in high expectations concerning the therapy. High interest in the subject in combination with rather little knowledge makes it necessary to enable migrant women being affected by infertility to make informed decisions. J Reproduktionsmed Endokrinol_Online 2017; (4): 171–7.
Key words: assisted reproductive medicine, infertility, migrant women, culturally sensitive health care
Einleitung
In Deutschland leben inzwischen > 17 Millionen Personen mit Migrationshintergrund (ca. 21 % der Bevölkerung) [1]. Die Studie befasst sich mit den 8,5 Millionen Frauen mit Migrationshintergrund. Im Schnitt sind sie 36,2 Jahre alt und damit deutlich jünger als Frauen ohne Migrationshintergrund (48,4 Jahre) [2]. Die Gruppe ist sehr heterogen im Hinblick auf Geburtsland, Herkunftsland oder rechtlichen Status. 5,8 Millionen sind selbst eingewandert, 2,7 Millionen in Deutschland geboren (zweite Generation). Mehr als die Hälfte (4,7 Millionen) sind deutsche Staatsangehörige, darunter (Spät-)Aussiedlerinnen, Eingebürgerte oder als Deutsche Geborene.
Dies hat Folgen für alle gesellschaftlichen Bereiche – auch für das Gesundheitssystem, in dem Menschen mit Migrationshintergrund für viele Angebote tendenziell als schwer erreichbar („hard to reach“) angesehen werden [3]. Inwieweit dies für die Reproduktionsmedizin gilt, soll untersucht werden. Das Deutsche In-vitro-Fertilisations-Register zählte im Jahr 2015 knapp < 96.124 Behandlungen [4]; die Zahl der Behandlungen wächst stetig [4, 5]. Eine Repräsentativbefragung zeigte, dass Einstellungen zur Reproduktionsmedizin in weiten Teilen der Bevölkerung positiv ausfallen [6]. Zu Frauen mit Migrationshintergrund und reproduktionsmedizinischen Behandlungen liegen jedoch bislang kaum Befunde vor [7]. In Deutschland gibt es hierzu mit Ausnahme der PinK-Studie, bei der auch knapp > 30 Frauen mit Migrationshintergrund einbezogen wurden [8], bisher keine quantitative Studie. Bekannt ist aber, dass sich Paare aus islamisch-patriarchal geprägten Gesellschaften aufgrund familiärer Erwartungen relativ früh in reproduktionsmedizinische Behandlung begeben [9]. Der Kinderwunsch bei türkischstämmigen Paaren ist stark vom sozialen Umfeld geprägt [10]. Bei der Aufklärung und Behandlung sind „spezifische Fertigkeiten und Herangehensweisen […] nötig, um den sozialen und kulturellen Besonderheiten im Umgang mit […] betroffenen Migrantinnen bzw. Paaren mit Migrationshintergrund gerecht zu werden“ [10]. Ein geringer sozioökonomischer Status, niedriges Bildungsniveau oder Sprachbarrieren können dazu beitragen, dass diese schwerer erreichbar sind [3, 11]. Auch die kulturell geformte Kommunikationsweise ist bedeutsam [12].
Die Studie soll Erkenntnisse über das Wissen und die Einstellungen von Frauen mit Migrationshintergrund zur Reproduktionsmedizin liefern. Eine weitere Fragestellung bezieht sich auf die Informationskanäle, die den Frauen potentiell Wissen vermitteln und damit auch ihre Einstellung zum Thema beeinflussen.
Methoden
Die vorgestellten Ergebnisse beruhen auf einer standardisierten, computerunterstützten Telefonbefragung von in Deutschland lebenden Frauen im „gebärfähigen“ Alter (18–50 Jahre, n = 1001). Sie orientiert sich bei Forschungsdesign und auch Befragungsinstrumenten an einer Repräsentativbefragung der Allgemeinbevölkerung aus dem Jahr 2003 [6, 13]. Im Unterschied zur Befragung von Kinderlosen [14, 15] oder von Behandelten [8] steht nicht die spezifische Sichtweise der Betroffenen im Fokus, sondern allgemeine Wissens- und Einstellungsmuster.
Die Studie sollte einen möglichst großen Teil der Frauen mit Migrationshintergrund sowie eine Vergleichsgruppe abdecken. Da die Stichprobe auf einem Namensverfahren basiert (siehe unten), wurden sprachlich-regionale Untersuchungsgruppen gebildet. Die 4 größten regionalen Herkunftsgruppen in Deutschland sind laut Mikrozensus 2015: 1,6 Millionen Frauen mit Wurzeln auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion (u. a. Russland, Ukraine, Kasachstan), 1,4 Millionen Frauen mit türkischer, etwa 880.000 Frauen mit polnischer Abstammung und gut 780.000 aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien (u. a. Serbien, Kroatien, Bosnien, usw.) [2]. Damit stammt über die Hälfte der 8,5 Millionen Frauen mit Migrationshintergrund aus einer dieser 4 (Sprach-)Regionen. Auf die Befragung der nächstgrößten Gruppe der Frauen mit italienischer Abstammung musste aus Kostengründen verzichtet werden.
Für jede der Untersuchungsgruppen und die Vergleichsgruppe erfolgte die Stichprobenziehung gesondert durch Humpert & Schneiderheinze GbR und Prof. Dr. Rainer Schnell aus dem deutschen Telefonverzeichnis. Pro Gruppe sollten jeweils etwa 200 Personen befragt werden (disproportional geschichtete Zufallsstichprobe). Zuvor wurde ein onomastisches Verfahren angewandt, das auf der Zuordnung der Vor- und Nachnamen im Telefonverzeichnis zu sprachlich-regionalen Gruppen beruht [16]. Die Befragung wurde im Zeitraum 29.10.2014–24.01.2015 durch die Infas Sozialforschung GmbH durchgeführt. In den Interviews wurde der Migrationshintergrund gemäß der Definition des Mikrozensus und die Bezugsregion (Region, in der die Befragte selbst geboren wurde, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt oder aus der mindestens ein Elternteil nach 1949 zugewandert ist) erhoben, wodurch die Trefferquoten der Sprach- und Herkunftsgruppen nach dem Namensverfahren überprüfbar wurden. Die Genauigkeit für die Regionen ehemalige Sowjetunion (93,6 %), Türkei (87,7 %) und Polen (86,3 %) stellte sich als sehr gut heraus, für das ehemalige Jugoslawien (60,7 %) war sie hingegen eher niedrig. Da die Einteilung der Untersuchungs- und Vergleichsgruppen in der Auswertung auf der Erhebung der Bezugsregion basiert, ergaben sich unterschiedliche Fallzahlen (Tab. 1). Während der Befragung konnten die Interviewten jederzeit die Sprache von Deutsch auf Türkisch, Polnisch, Russisch oder Serbokroatisch wechseln, mit entsprechend übersetzten Fragebögen. Dies war durch den Einsatz zweisprachiger Interviewer sichergestellt. In den Teilstichproben „Türkei“, „Gebiet ehemalige Sowjetunion“ und „Polen“ wurden jeweils über die Hälfte der Interviews in der entsprechenden Herkunftssprache geführt, in der Teilstichprobe „Gebiet ehemaliges Jugoslawien“ hingegen nur 9 %. Der Anteil der Frauen, die in Deutschland geboren sind, reicht von 1,6 % in der Gruppe aus dem Gebiet der ehem. Sowjetunion bis 32 % in der türkischen Gruppe (Tab. 1). Weitere Details können dem ausführlichen Methodenbericht entnommen werden [17].
Ergebnisse
Die Mehrheit der Befragten hat bereits leibliche Kinder (Tab. 1). Der Bildungsstand ist bei Frauen mit polnischem Hintergrund am höchsten, jene mit türkischen Wurzeln weisen das niedrigste Bildungsniveau auf. Die aktuelle Kinderzahl liegt im Schnitt zwischen 1,5 (ohne Migrationshintergrund) und 2 (Gebiet ehem. Jugoslawien, ehem. Sowjetunion, Türkei) (Tab. 1), dabei durchgehend unter der Wunschkinderzahl. Eigene Kinder zu haben ist für 90–96 % der Frauen mit Migrationshintergrund wichtig, bei der Vergleichsgruppe deutscher Frauen für 86 %.
Der Großteil der Frauen (etwa 90 %) hat schon etwas über Fortpflanzungsmedizin gehört (Tab. 2), mit Ausnahme der türkeistämmigen Gruppe, hier liegt der Anteil bei 73 %. Bei einer multivariaten Analyse (Logistische Regression) zeigt sich, dass unter Kontrolle von Alter und Geburtsort bei Frauen mit türkischem Migrationshintergrund keine signifikant niedrigere Informiertheit mehr vorliegt. Bei Frauen, die im Ausland geboren sind, ist Fortpflanzungsmedizin signifikant weniger bekannt. Auch das Bildungsniveau hat einen starken und hoch-signifikanten positiven Effekt: Frauen mit niedrigem Schulabschluss haben seltener von Fortpflanzungsmedizin gehört. Die Hypothese, dass sich ein höheres Bildungsniveau positiv auf die Informiertheit auswirkt, bestätigt sich somit. Auch ein Netzwerkeffekt lässt sich zeigen: Mit der Zahl an Kontaktpersonen mit Fachwissen im sozialen Netzwerk steigt die Wahrscheinlichkeit der Informiertheit signifikant.
Insgesamt schätzen die meisten Befragten ihr Wissen zum Thema als gering ein (Tab. 2). Eine multivariate Analyse zeigt, dass das subjektive Wissen nicht mit dem Bildungsniveau zusammenhängt, aber mit der Zahl an Kontaktpersonen, die über Fachwissen verfügen. Der Wissenstest, bei dem das Alter ausgewählt werden sollte, ab dem die weibliche Fertilität abnimmt, fällt entsprechend aus. „Ab 25 Jahren“ kann hierbei als korrekte Antwort interpretiert werden [6], aber auch „ab 30 Jahren“ [18]. Am besten schnitten hier die Frauen ohne Migrationshintergrund ab (43 % korrekte Antworten), gefolgt von Frauen aus dem Gebiet des ehem. Jugoslawien (29 %), der ehem. Sowjetunion und Polen (je 20 %) und der Türkei (13 %). Die Antworten sind bei höherem Bildungsniveau signifikant häufiger korrekt.
Massenmediale Informationen zu Kinderwunsch, Schwangerschaft und Fortpflanzungsmedizin konsumieren Frauen aller Gruppen primär über das Fernsehen und Zeitungen/Zeitschriften (Tab. 3). Fachliche Informationen und Beratung werden gruppenübergreifend am ehesten über Informationsmaterial bei Ärzten, Krankenkassen und Apotheken eingeholt. Auffällig ist, dass sich ¼ der aus Polen und der Türkei stammenden Frauen im vergangenen Jahr durch Ärzte beraten ließ, von den Deutschen ohne Migrationshintergrund tat dies nur jede 10. Frau. Zwischen 50 % und 60 % der Frauen haben im vergangenen Jahr mit ihrem Partner, mit Familienangehörigen und/oder Freunden über diese Themen gesprochen. Die durchschnittliche Zahl der Kontaktpersonen im sozialen Netzwerk, die über Fachwissen verfügen, liegt bei allen Frauen mit Migrationshintergrund signifikant niedriger als bei Frauen ohne Migrationshintergrund.
35 % der Türkeistämmigen informieren sich über Themen wie Kinderwunsch, Schwangerschaft und Fortpflanzungsmedizin meist oder nur in einer anderen Sprache als Deutsch. Bei Frauen aus dem Gebiet der ehem. Sowjetunion (28 %), Polen (27 %) und ehem. Jugoslawien (8 %) sind diese Werte geringer. Der Anteil derjenigen, die bei Ärzten eine Kommunikation in einer anderen Sprache als Deutsch bevorzugen, liegt bei etwa 50 % in der türkischen, ex-sowjetischen und polnischen und bei 16 % in der ex-jugoslawischen Gruppe.
Ein großer Anteil der Befragten stimmt sehr oder eher zu, dass ungewollt kinderlose Paare alle Techniken der Fortpflanzungsmedizin nutzen sollten (Abb. 1), wobei die Zustimmungsraten bei den befragten Migrantinnen höher liegen: Werte reichen zusammen gerechnet von 85 % (Polen) über 80 % (Türkei, ehem. Jugoslawien) bis 66 % (Deutschland). Assistierte Reproduktionsmedizin ist somit zur Normalität geworden und es wird von einer Mehrheit erwartet, dass diese Möglichkeit bei Bedarf genutzt wird. Eine multivariate Analyse (Ordinale Regressionsanalyse) ergab hierbei, dass die erhöhte Zustimmung bei türkischen und polnischen Frauen auch unter Kontrolle von Alter, Geburtsort, Bildungsniveau und Einstellungen zur Familie bestehen bleibt. Frauen, die in Deutschland geboren sind, haben eine signifikant höhere Zustimmungsquote. Es zeigt sich ein negativer Bildungseffekt, d. h. Frauen mit niedrigem Schulbildungsniveau sind signifikant häufiger der Meinung, dass Reproduktionsmedizin von kinderlosen Paaren genutzt werden sollte. Besonders stark ist die Zustimmung bei Frauen, die die Ansicht vertreten, dass eine Frau Kinder braucht, um ein erfülltes Leben zu haben.
Auch die Behandlungsbereitschaft unterscheidet sich: Frauen mit Migrationshintergrund würden signifikant häufiger reproduktionsmedizinische Verfahren nutzen (Tab. 4). Bei der konkreten Abfrage, welche Techniken sie potenziell nutzen würden, ergibt sich eine deutliche Ablehnung heterologer Verfahren.
Es zeigt sich auch in multivariater Analyse (Logistische Regression) unabhängig von Alter und Geburtsort sowie weiterer Variablen bei türkischen Frauen eine signifikant erhöhte Nutzungsbereitschaft. Die Bereitschaft hängt mit der Bekanntheit der Reproduktionsmedizin zusammen, steht aber in keinem Zusammenhang mit dem Bildungsniveau. Die Hypothese, dass die Behandlungsbereitschaft bei niedrigem subjektiven Wissensstand gering ist, lässt sich bestätigen. Wer der Aussage zustimmt, dass betroffene Paare Reproduktionsmedizin nutzen sollten, würde diese selbst auch signifikant häufiger nutzen. Eine verstärkte Akzeptanz ist somit vor allem bei Frauen zu finden, die von reproduktionsmedizinischen Verfahren etwas gehört haben, mehr darüber wissen, und die meinen, dass betroffene Paare diese nutzen sollten.
6–9 % der Befragten waren bereits in irgendeiner Form in reproduktionsmedizinischer Behandlung (Tab. 2). Die höchsten Quoten finden sich bei Frauen ohne Migrationshintergrund oder bei aus Polen und dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien stammenden Frauen und nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, bei Frauen aus der Türkei. Höhere Behandlungsquoten treten bei > 40-jährigen Frauen auf. Ein Zusammenhang mit der Bildung lässt sich nicht feststellen; sowohl bei sehr niedrigem wie bei sehr hohem sind höhere Behandlungsquoten als bei mittleren Bildungsniveau festzustellen. Frauen, die ihr Wissen eher niedrig einschätzen, waren seltener in Behandlung und umgekehrt.
Diskussion
Mehr als 1/3 der Kinder < 5 Jahren in Deutschland haben einen Migrationshintergrund, d. h. ihre Eltern sind ausländische Staatsangehörige oder zugewandert [1, 2]. Die Fertilität von Frauen mit Migrationshintergrund ist im Vergleich zu Frauen ohne Migrationshintergrund höher [19], auch wenn dies vor allem für niedriger Gebildete gilt [20] und in der zweiten Generation eine Anpassung stattfindet [21]. Die Fertilität ist in Deutschland konstant niedrig und erst in jüngster Zeit leicht ansteigend [22]. Hierbei ist eine deutliche Kluft zwischen erwünschter und realisierter Kinderzahl („fertility gap“) feststellbar [23]. Ein Kinderwunsch ist zwar ein Prädiktor dafür, in den nächsten 2 Jahren ein Kind zu bekommen, aber entscheidend sind die Stabilität der Partnerschaft, finanzielle Sicherheit, ein bereits vorhandenes Kind oder sozialer Druck [24]. Die Realisierung des Kinderwunsches kann jedoch durch medizinische Faktoren beeinträchtigt werden, insbesondere mit zunehmendem Alter. In der Leitlinie zu Fertilitätsstörungen, die in Abstimmung mit reproduktionsmedizinischen Fachvereinigungen erstellt wurde, wird zugrunde gelegt, dass 20–30 % aller Paare einmal unter verminderter Fruchtbarkeit leiden, 6–9 % aller Paare in Mitteleuropa ungewollt kinderlos sind und ca. 3 % dauerhaft ungewollt kinderlos bleiben [7, 18]. Nach Selbsteinschätzung von Befragten im deutschen Beziehungs- und Familienpanel („pairfam“) sind 8 % der 35–39-jährigen Frauen und Männer körperlich unfruchtbar [5].
Die oben dargelegten Behandlungsquoten (Tab. 1) sind im Vergleich zu früheren Studien [5, 6] höher; unter Frauen mit polnischem oder jugoslawischem Hintergrund sowie Frauen ohne Migrationshintergrund bei > 8 %, sonst bei 6 % (Tab. 2). Zwar ist nicht ersichtlich, ob die Behandlung in Deutschland durchgeführt wurde und wie umfassend diese war, aber die Ergebnisse verdeutlichen, dass mit einer steigenden Prävalenz auch bei Migrantinnen gerechnet werden muss.
Die Nutzung von Verfahren der assistierten Reproduktion bei ungewollter Kinderlosigkeit ist kein gesellschaftliches Tabu. Entsprechende Techniken sind akzeptiert, sofern es sich um homologe Verfahren handelt. Dieser Befund deckt sich mit Ergebnissen einer Befragung der Allgemeinbevölkerung aus dem Jahr 2003 [6, 13], wobei die Akzeptanz in den vergangenen 10 Jahre gestiegen und bei Frauen mit Migrationshintergrund stärker ausgeprägt ist.
Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass sich die Akzeptanz der reproduktionsmedizinischen Methoden mit der Betroffenheit der Frauen ändert. Eine diesbezügliche Studie zeigte ebenfalls eine hohe Nutzungsbereitschaft bei ungewollt Kinderlosen mit Migrationshintergrund [15]. Diese ist leicht erhöht im Vergleich zu Frauen der Allgemeinbevölkerung [14], liegt jedoch auf deutlich niedrigerem Niveau als in Tabelle 4 (z. B. würden 46 % der kinderlosen Frauen mit Migrationshintergrund IVF nutzen). Auch muss in Betracht gezogen werden, dass zwischen der Empfehlung zur assistierten Reproduktion und der tatsächlichen Inanspruchnahme große Unterschiede liegen. So nehmen 63 % eine Kinderwunschbehandlung nicht in Anspruch, obwohl sie die Diagnose eingeschränkter Fruchtbarkeit haben [15]. Ein Grund liegt darin, dass die überwiegende Mehrheit glaubt, dass es auch ohne medizinische Hilfe klappen werde [25].
Das Wissen über Fertilität und Reproduktionsmedizin ist bei Frauen mit Migrationshintergrund relativ niedrig. Beispielsweise wird das Alter, in dem die Fruchtbarkeit nachlässt, noch häufiger als in der Allgemeinbevölkerung [6] unterschätzt und auch die Reproduktionsmedizin ist weniger bekannt. Der Befund einer kanadischen Studie, dass bei einem niedrigen Bildungsgrad das Wissen niedriger ist, passt zu den Ergebnissen [26].
Die Hypothese, dass ein höheres Bildungsniveau mit höherer Informiertheit und auch höherem Fertilitätswissen korreliert, bestätigt sich. Bildung steht jedoch nicht im Zusammenhang mit dem selbst eingeschätzten Wissen, der Einstellung, Nutzungsbereitschaft oder Nutzung der Reproduktionsmedizin.
Mit höherem Wissen geht eine höhere Akzeptanz, Behandlungsbereitschaft und Behandlungsquote einher. Multiplikatoren sind für den Wissenstransfer bedeutsam, denn die Befunde zeigen, dass der Informations- und Wissensgrad steigt, wenn viele Kontaktpersonen etwas über Reproduktionsmedizin wissen.
Die Möglichkeit der Information und Beratung ist bei Migrantinnen begrenzt. Viele präferieren die Kommunikation in ihrer Muttersprache, in der das Beratungsangebot weitaus geringer ist. Alles hängt davon ab, „den Arzt oder Apotheker“ zu fragen – es zeigt sich, dass die Bereitschaft dazu in allen befragten Gruppen relativ hoch ist. Gerade deshalb ist ein kultursensibler Umgang mit dieser Zielgruppe im medizinischen Alltag und eine gute Arzt-Patienten-Beziehung [27] erforderlich, um diese Bereitschaft positiv zu nutzen.
Eine ergänzend durchgeführte Online-Befragung bei den im Deutschen In-vitro-Register (D.I.R) als Mitglieder gelisteten Zentren [28] ergab, dass das Bewusstsein für diese Zielgruppe vorhanden ist und teilweise mehrsprachige Kommunikation stattfindet. Ein weiterer Ansatz ist die verstärkte Ausbildung professioneller Sprachmittler und Gesundheitsmediatoren [29]. Zudem wäre es sinnvoll, die bestehende Beratungslandschaft zu sensibilisieren und zu informieren, z. B. durch lokale Netzwerke aus reproduktionsmedizinischen Einrichtungen und psychosozialen Beratungsstellen. Insofern fügen sich die Ergebnisse ein in die Diskussion über Verbesserungsvorschläge für die psychosoziale Kinderwunschberatung [30].
Relevanz für die Praxis
Frauen mit Migrationshintergrund sind eine wachsende Patientengruppe in der Reproduktionsmedizin. Bei geringem Wissenstand ist die Bedeutung und Akzeptanz assistierter Reproduktion bei ihnen besonders hoch. Es ergibt sich ein hoher Bedarf an Informationen über den Stand der Medizin, nach Sprachmittlern und nach einer Zusammenarbeit mit kultursensiblen Beratungsinstitutionen.
Förderung
Das Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unter dem Titel „Der Einfluss sozialer Netzwerke auf den Wissenstransfer am Beispiel der Reproduktionsmedizin (NeWiRe)“ (Fördernummer 01GP1304) gefördert.
Danksagungen
Die Autoren bedanken sich bei zwei Gutachtern für hilfreiche Hinweise zum Manuskript.
Interessenkonflikt
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Originalität
Die Arbeit wurde bisher nicht publiziert oder zur Publikation angenommen und bei keiner anderen Zeitschrift eingereicht. Alle Autoren waren an der Arbeit beteiligt und haben ihr Einverständnis zur letzten Version gegeben.
Die Abbildungen und Tabellen wurden selbst erstellt und sind nicht anderwärtig publiziert.
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