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Gromoll J et al.  
„Essener Manifest“ zur Förderung der Reproduktionsforschung in Deutschland // „Essener Manifest“ to support Research in Reproduction in Germany

Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie - Journal of Reproductive Medicine and Endocrinology 2020; 17 (4): 164-168

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Keywords: ARTForschungsförderungReproduktionRisikoVolksgesundheit

„Essener Manifest“ zur Förderung der Reproduktionsforschung in Deutschland

J. Gromoll1, H. M. Behre2, U. R. Markert3, A. Mayerhofer4, A. Navarrete Santos5, F. Tüttelmann6, F. von Versen-Höynck7, C. Wrenzycki8, R. Grümmer9

Eingegangen am 13. Juli 2020, angenommen 21. Juli 2020 (verantwortliche Rubrik-Herausgeberin: A. Weghofer, Wien)

Aus: 1Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie, Universitätsklinikum Münster; 2Zentrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie, Universitätsklinikum Halle (Saale); 3Klinik für Geburtsmedizin, Placenta-Labor, Universitätsklinikum Jena; 4Zellbiologie, Anatomie III, Biomedizinisches Zentrum, LMU München; 5Institut für Anatomie und Zell­biologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; 6Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Münster; 7Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Medizinische Hochschule Hannover; 8Klinik für Geburtshilfe, Gynäkologie und Andrologie der Groß- und Kleintiere, Justus-Liebig-Universität Gießen; 9Institut für Anatomie, Universitätsklinikum ­Essen, Universität Duisburg-Essen

Korrespondenzadresse: Professor Dr. Jörg Gromoll, Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie, Albert-Schweitzer-Campus 1, Gebäude D11, D-48149 Münster;
E-Mail: joerg.gromoll@ukmuenster.de

Im Rahmen eines Netzwerktreffens zur Reproduktionsforschung im März 2019 in Essen haben sich über 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter Beteiligung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) kritisch mit der aktuellen Situation und den zukünftigen Anforderungen an die Reproduktionsforschung in Deutschland auseinandergesetzt. Die Überlegungen wurden beim 8. Kongress des Dachverbands Reproduktionsbiologie und -medizin (DVR) in Leipzig (5.–7. Dezember 2019) vorgestellt und in Zusammenarbeit mit den DVR-Gesellschaften weiterentwickelt. Das vorliegende „Essener Manifest“ ist das Ergebnis dieser Diskussionen. Es herrscht Konsens, dass die reproduktive Gesundheit eine wesentliche Basis für die Gesundheit unserer Gesellschaft bildet und dass die Reproduktionsforschung, die in besonderem Maße interdisziplinär und translational ist, in Deutschland durch die Etablierung von Forschungsverbünden langfristig gestärkt werden muss. Reproduktion und reproduktive Gesundheit sind zentrale Bedürfnisse und Rechte des Menschen.

In der urbanen Gesellschaft beobachten wir, dass sozio-ökonomische Faktoren sowie endokrin-wirkende Umweltfaktoren massive negative Auswirkungen auf die reproduktive Gesundheit haben können. Diese beeinflussen die normale Keimzellbildung und führen zu einem Anstieg der Infertilität. Die Behandlung von Fertilitätsstörungen z. B. durch assistierte Reproduktionstechniken und Medikamente sind meist erfolgreich, bergen aber Risiken für die Gesundheit der Betroffenen und die der nachfolgenden Generationen. Zusätzlich sind die Einflüsse exogener sowie endogener Faktoren auf die intrauterine Entwicklung der Föten und deren langfristige gesundheitliche Folgen bisher kaum abschätzbar. Um die grundlegenden Zusammenhänge aufzuklären und darauf aufbauend neue, risikofreie Therapieansätze und gesundheitserhaltende Strategien entwickeln zu können, müssen in Deutschland reproduktionsmedizinische Forschungsprogramme etabliert werden. Wir brauchen eine starke und innovative Reproduktionsforschung, um die Gesundheit nachkommender Generationen zu gewährleisten.

Schlüsselwörter: Reproduktion, Fertilität, ART, Risiken, Volksgesundheit, Forschungsförderung

„Essener Manifest“ to support Research in Reproduction in Germany. During a network meeting on Reproduction in March 2019 in Essen, Germany, more than 70 scientists with the participation of German Research Foundation (DFG) representatives, critically looked at the current situation and future demands on research in reproduction in Germany. These considerations were compiled and presented at the 8th DVR Congress (DVR is the umbrella organization of reproductive biology and medicine societies in Germany) in Leipzig (5.–7. December 2019) and further refined in cooperation with the DVR member societies. The present „Essener Manifest“ is the result of these discussions.

There is a broad consensus that the causes of infertility, the effects of assisted reproductive techniques, as well as factors acting during pregnancy from the environment, can have serious implications for the health of the prospective parents, their children and subsequent generations. Since the dimension of these risks are not clear yet, it is of pivotal importance to i) raise public awareness for reproductive health issues and ii) to strengthen reproductive research in the future. For a sustainable setting for reproductive research, which is particularly interdisciplinary and translational, research alliances must be established to study the mid- to long-term consequences. This would represent a significant investment in the health of future generations. J Reproduktionsmed Endokrinol 2020; 17 (4): 164–8.

Key words: reproduction, fertility, ART, risks, public health, research funding

Reproduktion und ­Umwelt

Die Reproduktion umfasst die Bildung und Reifung der Gameten (Spermium und Eizelle) und deren Verschmelzen, sowie die Implantation und Plazentation, die embryonale Entwicklung, Schwangerschaft und Geburt. Die Reproduktion ist ein hochkomplexer Prozess koordinierter genetischer, zellulärer und endokriner Vorgänge. Durch innere und äußere Faktoren kann es zu Reproduktionsstörungen kommen, die zum einen zu einer verringerten oder fehlenden Fruchtbarkeit der Elterngeneration führen und zum anderen aber auch weitreichende Folgen für die Gesundheit der nachkommenden Generationen haben können.

Weltweit ist eine Zunahme der Infertilität zu beobachten. In Deutschland ist derzeit jedes achte Paar ungewollt kinderlos [1], wobei die Kinderlosigkeit durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird. Unter den Risikofaktoren sind vor allem genetische Ursachen, das Alter und die Gesundheit der Paare (z. B. Adipositas), sowie Umweltfaktoren (z. B. endokrine Disruptoren, EDC) relevant [2–4]. Aufgrund der sozio-kulturellen Entwicklung, wie beispielsweise längere Zeiten für Schul- und Berufsausbildung oder Studienabschluss, wird die Erfüllung des Kinderwunsches zunehmend auf einen späteren Lebenszeitpunkt verschoben. Die Zahl der Mütter in einem reproduktionsbiologisch fortgeschrittenen Alter von über 40 Jahren hat sich in den letzten 30 Jahren fast vervierfacht [5]. Parallel hierzu deuten Studien auf eine abnehmende Spermienproduktion und -qualität beim alternden Mann (> 40 Jahre) hin [6–8]. Haben beide Partner ein erhöhtes Risiko für eine Fruchtbarkeitsminderung, wie z. B. Alter oder Subfertilität, steigt die Abortrate signifikant an [9]. Darüber hinaus können Faktoren wie Ernährung und endokrin-wirkende Substanzen wie Umweltschadstoffe oder sekundäre Pflanzenstoffe (Phytochemikalien) zusätzliche Risikofaktoren darstellen. Es ist bereits bekannt, dass EDCs die hormonelle Regulation stören und die sexuelle Differenzierung bei Neugeborenen beeinflussen können [4, 10]. Zudem gibt es zunehmend Hinweise und Studien, die zeigen, dass ein ganzes Spek­­trum von Faktoren Auswirkungen auf die intrauterine Entwicklung der Embryonen und Föten haben können (z. B. durch embryonale/fötale Programmierung oder reproduktionstoxikologische Einflüsse), deren potentielle Gesundheitsrisiken für das spätere Leben bisher nicht abschätzbar sind [11].

Onkologie und Fertilitätserhalt

Eine weitere Herausforderung stellen iatrogen bedingte Einschränkungen der Fruchtbarkeit bei Frauen und Männern dar. Sowohl bei Krebserkrankungen als auch bei Autoimmunerkrankungen kommen Zytostatika wie z. B. Cyclophosphamid zum Einsatz, die aufgrund ihrer gonadotoxischen Wirkung irreversible Schädigungen der Keimzellen auslösen können [12]. Wegen der o. g. gesellschaftlichen Veränderungen, die mit einer Verschiebung der Reproduktion auf immer spätere Lebensphasen einhergehen, haben aufgrund der Zunahme an Krebserkrankungen mit fortschreitendem Alter eine zunehmende Zahl an Patientinnen und Patienten zum Zeitpunkt der Therapie ihre Familienplanung noch nicht abgeschlossen. Neben dem direkten Einfluss der medizinischen Behandlung auf die Keimzellen kann auch der Kinderwunsch der Eltern die Therapieoptionen einschränken und dadurch die Genesung der Mutter beeinträchtigen. Es ist bekannt, dass jede siebte Frau Einschränkungen bei der onkologischen Therapie hinnehmen würde, wenn sich dadurch die Option für einen späteren Kinderwunsch erhalten ließe [13].

Auf der anderen Seite wäre es falsch, die Fruchtbarkeit zu Lasten des onkologischen Therapieerfolges zu schützen. Durch die Fortschritte in der Reproduktionsmedizin stehen mittlerweile verschiedene Therapiemaßnahmen zum Erhalt der Fruchtbarkeit über eine solch eingreifende Behandlung hinaus zur Verfügung, wie beispielsweise die Kryokonservierung von Keimzellen [14, 15] oder das Einfrieren von Ovargewebe postpubertärer Frauen sowie auch von Ovar- und Hodengewebe präpubertärer Mädchen und Jungen. Diese Methoden sind jedoch nicht risikofrei und müssen durch experimentelle und klinische Studien abgesichert werden. Gerade bei präpubertären Patientinnen und Patienten stellen die möglichen therapeutischen Verfahren zum Fertilitätserhalt eine große Herausforderung dar, da bei ihnen die Keimzellen noch in einem unreifen Zustand vorliegen und entsprechende In-vitro-Verfahren zur Keimzellreifung entwickelt werden müssen [16], deren Konsequenzen für die spätere Gesundheit der Nachkommen noch unbekannt sind.

Die übergeordnete Bedeutung des Fertilitätserhalts bei schwerwiegenden Erkrankungen wird durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) von 2019 deutlich, in dem die Kryokonservierung von Keimzellen bzw. Keimzellgewebe sowie die dazugehörigen medizinischen Maßnahmen für Frauen und Männer als gesetzliche Kassenleistung aufgeführt werden, wenn die Kryokonservierung wegen einer Erkrankung und deren Behandlung mit einer keimzellschädigenden Therapie medizinisch notwendig erscheint.

Risikobewertung der ­assistierten Reproduk­tionstechniken

Eine ausgeprägte Subfertilität bei unerfülltem Kinderwunsch ist der wesentliche Grund, weshalb Paare assistierte Reproduktionstechniken (ART) in Anspruch nehmen. Die Einführung der IVF (In-vitro-Fertilisation) vor etwa 40 Jahren und der ICSI (Intracytoplasmatische Spermieninjektion) vor etwa 30 Jahren führten weltweit dazu, dass vielen vorher unfruchtbaren Paaren die Möglichkeit zu einer erfolgreichen Therapie und einem genetisch eigenen Kind gegeben wurde. Die Einführung von Reproduktionstechniken ist somit eine große klinische Errungenschaft, die unfruchtbaren Paaren weltweit den Wunsch nach Kindern erfüllt hat. Die häufige Anwendung und der große Bedarf an Reproduktionstechnologien haben inzwischen Einfluss auf die demographische Entwicklung genommen. In Dänemark sind bereits, auch gefördert durch staatliche finanzielle Unterstützung der Paare, 8 % aller Neugeborenen durch ART entstanden, in Deutschland sind es etwa 4 % aller Kinder, mit steigender Tendenz [17, 18]. Neuesten Berechnungen zufolge werden zum Ende dieses Jahrhunderts etwa 300 Millionen Kinder weltweit durch ART entstanden sein [19].

ART umfasst unter anderem hormonelle Stimulationen und operative Eingriffe bei der Frau zur Gewinnung der Eizellen, die Kultivierung der Keimzellen und der frühen Embryonen außerhalb des Körpers in Kulturmedien, aber auch Manipulationen an Eizelle und Embryo wie ICSI, Eröffnen der Zona pellucida oder Entnahme des Polkörpers aus der reifen Eizelle oder von Zellen aus dem frühen Embryo. So ist z. B. die ICSI, bei der ein Spermium direkt in die reife Eizelle platziert wird, eine Standardbehandlung in der Reproduktionsmedizin geworden. Die molekularen Veränderungen, die hierdurch entstehen, und deren Konsequenzen für die Gesundheit der Nachkommen sind bei weitem noch nicht ausreichend erforscht. So wurden durch die Anwendung dieser Techniken molekulare Modifikationen wie z. B. veränderte Methylierungsmuster in den Keimzellen und lebenslange Gesundheitsrisiken für die Nachkommen wie z. B. Herz-Kreislauferkrankungen [18, 20] beschrieben. Darüber hinaus besteht ein genetisches Grundrisiko in diesem Patientenkollektiv – zum einen in der Vererbung von Fertilitätsstörungen, zum anderen aber auch z. B. für das Auftreten von Fehlbildungen [21].

Epidemiologische Aspekte

In den letzten Jahrzehnten wurden neue Therapien wie Hormonstimulationen mit intrauteriner Insemination, IVF oder ICSI zur Behandlung von Fertilitätsstörungen sowie molekulare Untersuchungsmethoden, wie die PID zur präimplantativen Diagnose, der in vitro entstandenen Embryonen entwickelt. Die Konsequenzen dieser Techniken für die langfristige Gesundheit der Nachkommen und der gesamten Gesellschaft wurden bisher jedoch nicht ausreichend untersucht. Die Gesundheitsrisiken der ART für die nachfolgenden Generationen sind noch weitgehend unverstanden. Mögliche Faktoren sind sowohl die reduzierte Fruchtbarkeit der Eltern als auch epigenetische Einflüsse auf die Gameten und den Embryo [22]. So werden bei einer ICSI die natürlichen Selektionsprozesse bei der Wahl der Gameten umgangen, da Eizelle und Spermium aktiv ausgewählt werden. Zudem ist unklar, welchen Einfluss die verschiedenen Verfahren bei einer ART auf die Entwicklung des Em­bryos haben können [23]. Darüber hinaus gibt es immer noch eine wissenschaftlich unklare Beurteilung, inwieweit Hinweise auf mögliche Langzeitfolgen bei ART-Kindern für Herz-Kreislauferkrankungen, Fehlbildun­gen der Gliedmaßen, Einschränkungen der Fruchtbarkeit sowie eine erhöhte Veranlagung für die Entwicklung von Krebserkrankungen valide sind [24, 25]. Damit ergeben sich möglicherweise direkte Konsequenzen für die Gesundheit der aus ART entstandenen Kinder, aber wahrscheinlich auch für die Kinder dieser Kinder.

Die Evaluation der gesundheitlichen Risiken ist noch in den Anfängen, und die wissenschaftlichen und medizinischen Kenntnisse zu diesen hochkomplexen Fragestellungen sind bei weitem nicht ausreichend. Für die Forschung zur Langzeitentwicklung der nach ART geborenen Kinder sind auf Jahre und Jahrzehnte angelegte Kohorten-Studien nötig. Diese können idealerweise durch den prospektiven Einschluss vieler behandelter Paare und Kinder untersucht werden, hierfür ist eine zentrale Koordination zwingend erforderlich. So könnte z. B. die Koordination bestehender Register (Deutsches IVF-Register, Perinatalerhebung, Krebsregister) syner­gistische Effekte haben.

Fazit

Aufgrund der möglichen generationenübergreifenden Auswirkungen der bei den assistierten Reproduktionstechniken angewendeten Methoden ist die Erhaltung und Erforschung der reproduktiven Gesundheit von übergeordnetem gesellschaftlichen Interesse und ein medizinisches Ziel höchsten Ranges. Zudem sind die finanziellen Folgen dieser Entwicklung für das Gesundheitssystem nicht abschätzbar.

Es sollte deshalb ein erklärtes Ziel der Gesellschaft sein, die reproduktionsmedizinische Forschung maximal zu fördern und damit mögliche Gesundheitsrisiken für Eltern und Nachkommen zu minimieren.

Kernpunkte des Essener Manifests

  • Reproduktive Gesundheit ist von grundsätzlicher Bedeutung für unsere Gesellschaft. Die öffentliche Wahrnehmung und das Problembewusstsein bei der Bevölkerung für die reproduktive Gesundheit ist gering und entspricht nicht ihrer gesellschaftlichen Bedeutung.
  • Die Grundlagen der Reproduktionsstörungen sind nur unvollständig aufgeklärt.
  • Die reproduktive Gesundheit wird durch Umweltfaktoren und sozioökonomische Umbrüche beeinträchtigt.
  • Gesundheitliche Folgen verschiedener ART-Methoden für die nachfolgenden Generationen sind noch weitgehend unverstanden.
  • Reproduktionsforschung ist im besonderen Maße interdisziplinär und translational und strahlt in andere Forschungsgebiete, wie die regenerative Medizin und Stammzelltherapien, aus.
  • In der Reproduktionsforschung liegt Deutschland abgeschlagen weit hinter der Weltspitze.
  • Zur Vernetzung der Standorte und Zentren müssen neue Forschungsstrukturen und Verbünde etabliert werden.
  • Die Stärkung der Reproduktionsmedizin stellt eine gesellschaftlich hoch relevante Aufgabe dar, die perspektivisch durch die Einrichtung eines Deutschen Zentrums für Reproduktive Gesundheit (DZRG) interdisziplinär, translational und nachhaltig gefördert werden kann.
  • Eine moderne und konkurrenzfähige Reproduktionsforschung ist eine Investition in die Gesundheit nachkommender Generationen.

    Evidenzbasierte Reproduktionsmedizin braucht systematische Forschung

Trotz der immensen Bedeutung der reproduktiven Gesundheit herrscht in der Öffentlichkeit eine teilweise verfälschte Wahrnehmung der Reproduktionswissenschaften. Ureigene Gebiete der reproduktionsbiologischen Forschung, wie beispielsweise die Präimplantationsdiagnostik oder die Auswirkung der Anwendung von Genomeditierungstechnologien auf die Embryonalentwicklung, werden – auch aufgrund der rechtlichen Einschränkungen – nicht systematisch untersucht. Zudem geht es nicht „nur“ um die Behandlung von Kinderlosigkeit und schon gar nicht um die „Herstellung von Wunschkindern“, sondern um Eingriffe, die für das betroffene Individuum lebenslange Konsequenzen haben ­könnten.

Reproduktionsforschung in Deutschland

Trotz der massiv wachsenden Anforderungen an die Reproduktionswissenschaft gibt es in Deutschland nur wenige universitäre Einrichtungen mit einem Schwerpunkt in der Reproduktionsforschung. Meistens sind diese geschlechterspezifisch ausgerichtet, fokussieren also entweder auf weibliche oder männliche Reproduktion und umfassen in keinem Fall das ganze Gebiet der reproduktiven Gesundheit. Mit größter Besorgnis beobachten wir, dass spezialisierte Professuren im Bereich der klinischen Reproduktion und der reproduktionsbiologischen Forschung abgebaut werden. Im Zuge der biomedizinischen Schwerpunktbildung an den Universitäten, die sich aktuell hauptsächlich auf Neurowissenschaften, Herz-Kreislauferkrankungen, Onkologie und Infektionsforschung, Immunologie oder Entzündung fokussiert, erkennen wir eine starke Erosion der reproduktionsbiologischen Forschung. Dies erfüllt uns mit großer Sorge, da wir überzeugt sind, dass reproduktionsbiologische Forschung maßgeblich zur Prävention von Erkrankungen aus den oben genannten Bereichen beitragen kann.

Übergreifende Forschungsverbünde mit dem Schwerpunkt Reproduktion gab und gibt es nur seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Aktivitäten zur Verbundforschung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) oder andere staatliche Institutionen gibt es bisher nicht. Es existiert in Deutschland kein übergeordnetes mittel- bis langfristiges Konzept, welches den Aufbau nachhaltiger Strukturen in der Reproduktionsforschung ermöglichen würde. Als Konsequenz daraus hat Deutschland bereits jetzt im internationalen Vergleich Kompetenz in einem der wissenschaftlichen Schlüsselgebiete, welches unsere Zukunft in individueller wie auch gesellschaftlicher Hinsicht in den nächsten Jahrzehnten prägen wird, eingebüßt.

Reproduktionsforschung – eine Investition in unsere Zukunft

Diese Entwicklung kann nur umgekehrt werden, wenn nachhaltige und übergreifende Strukturen geschaffen werden, die die verschiedenen Ausrichtungen und Inhalte der Reproduktionsforschung stärken und Synergieeffekte schaffen. Wichtig ist hier vor allem ein interdisziplinärer Ansatz aus Forschung und Klinik, mit dem ein tiefes Verständnis der Reproduktion erlangt werden kann. So ist ein Schulterschluss mit (Epi-) Genetikern sowie mit Reproduktionswissenschaftlern, die an Tieren wie z. B. Rindern oder Primaten als Modellorganismen forschen, sinnvoll und notwendig, da aufgrund des deutschen Embryonenschutzgesetzes und anderer gesetzlicher Regelungen die Reproduktionsforschung beim Menschen stark limitiert ist.

Die Vergleichbarkeit solcher Modelle mit den Mechanismen beim Menschen hinsichtlich zahlreicher kritischer Faktoren wurde bereits dargelegt [26]. Zudem können biologische und veterinärmedizinische Einrichtungen wertvolle Beiträge zu grundsätzlichen Prozessen der Reproduktion, wie beispielsweise Keimzellfunktionen, leisten.

Konzept zur Stärkung der Reproduktionsforschung

Ausgangspunkt für unsere Überlegungen zur Stärkung der Reproduktionsforschung in Deutschland ist hier die Humboldt‘sche Trias aus Lehre, Forschung und Klinik, die die Grundlage für jede Disziplin/Fachrichtung darstellt. Ein Fehlen einer dieser Komponenten hat unmittelbaren Einfluss auf die anderen und führt perspektivisch zu einem Verschwinden der betroffenen Fachrichtung. So hat das Fehlen von Lehre und damit die Heranführung junger Studierender an das entsprechende Fachgebiet mittelfristig einen Nachwuchsmangel als Konsequenz, gefährdet somit das Gebiet insgesamt. Das Fehlen von Forschung wiederum führt zu einer statischen Klinik, da innovative Therapien und Diagnostika nicht mehr entwickelt und validiert werden. In letzter Konsequenz bedeutet dies erhebliche Nachteile für die Patienten, da eine optimale Behandlung nicht mehr gewährleistet ist. Diese Wechselwirkungen werden in unserem folgenden Konzept berücksichtigt.

Die Reproduktionslehre ist die Grundlage für unser Gebiet und essenziell für die Weiterentwicklung von Wissenschaft und Klinik. In vielen, wenn nicht an allen Universitäten ist Reproduktionsbiologie/-medizin mit Ausnahme der Veterinärmedizin nicht Bestandteil der curricularen Lehre. Da eine Integration unseres Gebietes in die Lehrpläne von Biologie/Medizin nur langfristig umsetzbar ist, sollten kurzfristig extracurriculare Aktivitäten (z. B. interdisziplinäre mehrtägige Sommerschulen, Workshops, Ringvorlesungen) erfolgen, um die Studierenden auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin/-biologie auszubilden. Durch interaktive Medienverwendung können diese Angebote deutschlandweit erfolgen. Diese Aktivitäten sollten z. B. durch den DVR koordiniert und durch die einzelnen Fachgesellschaften im DVR durchgeführt werden. Mittelfristig muss es das Ziel sein, Reproduktion als festen Bestandteil der Lehre zu verankern.

Im Hinblick auf die Ziele der Reproduktionsforschung ergibt sich aus den oben skizzierten inhaltlichen Bereichen der Reproduktion das ganzheitliche Bild der reproduktiven Gesundheit. Damit ist Reproduktionsforschung eben nicht als reine Infertilitätsforschung definiert, sondern erstreckt sich von der Keimzellbildung über die embryonale Entwicklung, die sexuelle Differenzierung bis hin zur generellen Gesundheit des Erwachsenen. Die Forschung muss sich deshalb in Zukunft diesen Themen stellen und dies auch als gesellschaftliche Aufgabe begreifen. Zukunftsweisende Reproduktionsforschung beinhaltet Forschungsfelder wie die

  • Biologie und genetische Grundlagen der Reproduktion,
  • Fertilitätsstörungen/Kontrazeption,
  • Chancen und Risiken der ART,
  • Onkofertilität,
  • Embryonale/Fötale Programmierung,
  • Reproduktion und Gesellschaft,
  • Epidemiologie.

Die aus diesen Forschungsbereichen gewonnenen Erkenntnisse haben unmittelbaren Einfluss auf die unterschiedlichen in der Reproduktionsmedizin angewendeten Methoden und damit auf die erfolgreiche Behandlung der Patientinnen und Patienten und die lebenslange Gesundheit der Nachfolgegenerationen. Hierzu ist eine enge Zusammenarbeit zwischen den Forschungseinrichtungen und den Kliniken unabdingbar (Abb. 1).

Perspektiven für die ­Reproduktionsforschung

Damit die gesundheitlichen Konsequenzen der reproduktionsmedizinischen Methoden und Behandlungen auf lange Sicht analysiert werden können, bedarf es zunächst des Aufbaus und der Etablierung übergreifender Forschungsverbünde, die die Komplexität der Reproduktionsmedizin interdisziplinär abdecken und so einen Mehrwert an Erkenntnisgewinn darstellen. Besonders geeignet sind hierfür Forschungsstrukturen wie z. B. Schwerpunktprogramme der DFG oder BMBF-Programme zur Gesundheitsforschung. Eine Realisierung dieser Programme und die damit verbundene Förderung stellen die essenzielle Grundlage sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf strategischer/politischer Ebene für ein nachhaltiges Konzept zur reproduktiven Gesundheit dar. Zur Stärkung der Reproduktionsforschung können mittel- bis langfristig übergeordnete und notwendige Strukturen zur Etablierung eines Forschungs-, Diagnostik- und Behandlungskonsortiums umgesetzt werden. Hierfür ist die Einrichtung eines Deutschen Zentrums für Reproduktive Gesundheit (DZRG) hervorragend geeignet.

Zentrales Anliegen der vom Bundesforschungsministerium geförderten Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung (DZG) ist es, optimale Bedingungen zu schaffen, um Volkskrankheiten zu bekämpfen [27]. Hierbei handelt es sich um dezentrale deutschlandweite Verbünde von Hochschulen, Universitätsklinika und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die vom Bundesforschungsministerium mit beträchtlichen finanziellen Mitteln langfristig unterstützt werden. Bisher sind 6 Zentren für Gesundheitsforschung zu Volkskrankheiten wie z. B. Infektionskrankheiten (DZIF) und Herz-Kreislauferkrankungen (DZHK) mit insgesamt mehr als 80 Standorten und mehr als 100 beteiligten Gruppen bereits etabliert. Im Rahmen eines DZRGs könnte die Reproduktionsforschung interdisziplinär, translational und nachhaltig adressiert und damit die Prävention, Diagnose und Therapie in der Reproduktionsmedizin für die kommenden Generationen verbessert ­werden.

Diese vorgeschlagenen Initiativen zu Lehre, Forschung und Klinik sowie zu den Verbundstrukturen können nur durch begleitende (wissenschafts-) politische Aktivitäten erfolgreich umgesetzt werden. Dazu ist es unabdingbar, Politiker aus dem Gesundheitsbereich und wissenschaftliche Gesellschaften wie z. B. die Nationale Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene über das Thema Reproduktive Gesundheit zu informieren und vom dringenden Handlungsbedarf zu überzeugen. Diese Multiplikatoren haben eine wichtige Funktion bei der Implementierung der Bedeutung der Reproduktiven Gesundheit in der Gesellschaft und für die Förderung der notwendigen Forschungsinitiativen auf nationaler Ebene.

Interessenkonflikt

Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Literatur:

1. BMFSFJ. Hilfe und Unterstützung bei ungewollter Kinderlosigkeit. 2019. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/familie/schwangerschaft-und-kinderwunsch/­ungewollte-kinderlosigkeit

2. Tüttelmann F, Ruckert C, Röpke A. Disorders of spermatogenesis: Perspectives for novel genetic diagnostics after 20 years of unchanged routine. Med Genet 2018; 30: 12–20.

3. Gromoll J, Tüttelmann F, Kliesch S. „Social freezing“ – die männliche Seite [Social freezing – the male perspective]. Urologe A 2016; 55: 58–62.

4. Demeneix B, PhD, Slama R. Endocrine disruptors: from scientific evidence to human health protection. 2019.
https://www.europarl.europa.eu/committees/en/­supporting-analyses/sa-highlights

5. DeStatis Statistisches Bundesamt. Geburten. 2019.
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten/_inhalt.html

6. Kühnert B, Nieschlag E. Reproductive functions of the ageing male. Hum Reprod Update 2004; 10: 327–39.

7. Yatsenko AN, Turek PJ. Reproductive genetics and the aging male. J Assist Reprod Genet 2018; 35: 933–41.

8. Rodprasert W, Virtanen HE, Sadov S, et al. An update on semen quality among young Finnish men and comparison with Danish data. Andrology 2019; 7: 15–23.

9. Turner KA, Rambhatla A, Schon S, et al. Male infertility is a women‘s health issue – Research and clinical evaluation of male infertility is needed. Cells 2020; 9: 990.

10. Sharpe RM. Programmed for sex: Nutrition-reproduc­tion relationships from an inter-generational perspective. Reproduction 2018; 155: S1–S16.

11. Argyraki M, Damdimopoulou P, Chatzimeletiou K, et al. In-utero stress and mode of conception: impact on regulation of imprinted genes, fetal development and future health. Hum Reprod Update 2019; 25: 777–801.

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13. Li A, Pasternak M, Duke C. The effect of practitioner education on fertility preserv ation awareness, perception and clinical practice. Obstet Gynecol 2015; 125: 8–9.

14. Picton HM, Wyns C, Anderson RA, et al. A European perspective on testicular tissue cryopreservation for fertility preservation in prepubertal and adolescent boys. Hum Reprod 2015; 30: 2463–75.

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19. De Geyter C. Assisted reproductive technology: Impact on society and need for surveillance. Best Pract Res Clin Endocrinol Metab 2019; 33: 3–8.

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21. Esteves SC, Roque M, Bedoschi G, et al. Intra­cytoplasmic sperm injection for male infertility and consequences for offspring. Nat Rev Urol 2018; 15: 535–62.

22. Glazer CH, Eisenberg ML, Tøttenborg SS, et al. Male factor infertility and risk of death: a nationwide record-linkage study. Hum Reprod 2019; 34: 2266–73.

23. Macklon NS, Ahuja KK, Fauser B. Building an evidence base for IVF „add-ons“. Reprod Biomed Online 2019; 38: 853–6.

24. Belva F, Bonduelle M, Tournaye H. Endocrine and reproductive profile of boys and young adults conceived after ICSI. Curr Opin Obstet Gynecol 2019; 31: 163–9.

25. La Rovere M, Franzago M, Stuppia L. Epigenetics and neurological disorders in ART. Int J Mol Sci 2019; 20: 4169.

26. Wrenzycki C. Gene expression analysis and in vitro production procedures for bovine preimplantation embryos: Past highlights, present concepts and future prospects. Reprod Domest Anim 2018; 53 (Suppl 2): 14–9.

27. Deutsche Zentren der Gesundheitsforschung.
https://www.bmbf.de/de/deutsche-zentren-der-gesundheitsforschung-394.html

Alle Links zuletzt gesehen: 05.08.2020


 
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